2012-12-18

Underground

Underground

(Das Tape dreht durch, die ganze Nacht. Musik ist im Kasten... wird über die Erde gebracht)    
Als ich fünf war, hatte ich mein erstes Undergrounderlebnis. Ich begegnete in meinem Viertel einem gleichaltrigen Jungen, der behauptete, seine Großeltern seien gestorben und unterirdisch zum Friedhof gebracht worden. Durch Stollen getragen, wie beim Untertagebau. Ganz beschwerlich, mühsam und langwierig soll das für alle Angehörigen gewesen sein. Da ich ihm keinen Glauben schenkte, zeigte er mir die Nahtstellen auf dem Teer. Rechthaberisch deutete er auf all die Ausbesserungsarbeiten darauf, fragte mich, ob ich denn einen besseren Grund wüsste, weshalb unsere Straße wie ein Fleckerlteppich aussähe. Wir bückten uns und fuhren mit den Fingern die Schlangenlinien entlang. Je näher wir dem kleinen Friedhof kamen, desto siegessicherer wurde der Junge in seinen Anmerkungen. Er machte das sehr eloquent, wie ein Touristenführer. Ganz anschaulich zeigte er mir, an welchen Stellen die Trauergesellschaft zum Luftschnappen nach oben gekommen war. Klar, sie hatten Sauerstoff dabei, dort, im Untergrund, aber Tante Katja habe Probleme mit ihrer Flasche bekommen, und so sei das Luftschnappen unausweichlich gewesen. Was für eine seltsame Maulwurffamilie. Aber mich wunderte das damals gar nicht so sehr. Ich stellte mir das alles einfach genau so vor, wie der Junge es schilderte und fand die Idee fantastisch. Wenn ich ihm auch nicht glaubte, so hatte ich doch Respekt vor seinen Ausführungen, und er schien mir eine sehr verrückte Erklärung für die Schnittstellen, die Totenstille und die Friedhofsstimmung auf den Straßen abzuliefern. Was die Sache umso respektabler machte. 
Auf halber Strecke sahen wir den olivgrünen Militärbus seine tägliche Route abklappern. Ich sah ihn jeden Nachmittag junge amerikanische Rekruten daheim absetzen. Der Fahrer war immer derselbe, und mein neuer Freund behauptete, er sei sein Cousin. Dann wurden wir von einem Flieger im Landeanflug Riem abgelenkt, und wir kugelten uns auf einen Rasen und feuerten eine ordentliche Salve imaginäres Schießpulver gen Himmel, quasi aus Luftgewehren. Beim letzten Mal habe das Flugzeug klein beigegeben und eine ganze Ladung Gummibärchen, weiße Mäuse und Luftschlangen abgeworfen – ein Angeber hoch Tausend! Aber mit der poetischen Dichte, in der er seine Lügenmärchen strickte, war er sicher gut bewaffnet, um der öden Spießerwelt, in der wir aufwuchsen, Paroli bieten zu können. 
Eine Sache hatten wir Kinder damals nämlich schon begriffen, oder durch das Kabelfernsehen gesehen, das damals in den Straßen verlegt wurde und uns „Western von Gestern“, einen „Colt für alle Fälle“, dem Asphalt ein Narbengesicht und die Großeltern unter die Erde brachte: In der Welt ging es nicht friedlich zu. Die Ordnung, in der wir aufwuchsen, war eine scheinheilige, auf Waffengewalt beruhende. Auch wenn die Waffen unsichtbar blieben. Die verordnete Ruhe war faul und musste korrumpiert werden.
Dabei fällt mir Ralfi ein, unser Nachbar, Sohn eines Polizisten. Der unterrichtete mich im Modellieren anhand seiner ordentlichen Kriegsschauplätze. Ganz malerische Landschaften hatte er da geleimt, und er zeigte mir auch wie man die Plastiksoldaten von Revel mit einem simplen Trick bei den Schätzlingers, unseren Schreibwarenhändlern, klauen konnte. Man musste nur kurz zwischen den Regalen umherschleichen, eine ganze Rippe mit Soldaten dran aus der Schachtel ziehen und die leere wieder ganz akkurat ins Regal legen. Daraufhin stolz mit der gerippten Beute nachhause gehuscht und sich Mamas Schelte anhören, mit dem Befehl, die Soldaten sofort wieder in den Laden zurückzubringen. Dort stand ich dann mit reumütiger Miene ganz scheinheilig vor Frau Schätzlingers Ladentheke. Fast so klein wie die Figuren, so dass sie mir diese mit einer großherzigen Geste überliess. „Darfst sie behalten. Weil du so ehrlich bist.“ 
Der Welt eine eigene Version von ihrer Realität aufzutischen war jedenfalls wichtig, um sich die Zeit zu vertreiben. Darin sind sich der Angeber und ich noch heute einig. Ich weiß nur nicht, was aus ihm geworden ist, vielleicht Versicherungsvertreter.
Wenn ich damals spätnachmittags die bekümmerten Gesichter der Autofahrer sah, wie sie alle mit ihren fünfzig Litertanks auf irgendeiner Mission im steten Fluss der Hauptstraße unterwegs waren, dann wusste ich manchmal nicht so recht, ob es sich lohnen würde, dort hinaus zu fahren. Aber man musste es probieren. Und es war gut, an der Oberfläche zu sein. Der Sauerstoff und die Hochspannung waren auch oben. Alles, was darunter lag, hatte Zeit.









No hay comentarios.:

Publicar un comentario