2021-04-15

Texte zu Musik: MURENA MURENA – Take Care Of Me

Und als ich den Augenschirm abnahm, wurde ich gewahr, dass ich nichts in der Hand hatte. Keine Riemen und keine Zügel, die ich die ganze Rennstrecke über an meinen Händen geglaubt hatte. Obwohl mir während der Fahrt schon klar gewesen war, dass das Bild vom Radlauf nicht der Realität entsprach, hatte ich keinen Eingriff gewagt. Aber dann musste doch Jemand Anderes die Steuerung übernommen haben! Wer? 

König Midas wünschte sich, alles in Gold wandeln zu können. Dionysos erfüllte ihm diesen Wunsch: Alles, was Midas mit Händen berührte, wurde zu Gold, auch Speise und Trank – so drohte er zu verhungern und zu verdursten. Er war ein König geworden, der sich nicht einmal mehr um sich selbst kümmern konnte. 

Die Dinge werden ungreifbar. Murena Murena macht auf Take Care Of Me die Kehre: Seine neuen Stücke sind Silhouettefahrzeuge in der Umkehrung aller Verkehrsformeln, die nach Geschwindigkeit und Fortschritt streben. Es geht auch mit dem Rücken auf dem Boden, es geht auch rückwärts! In Murena Murenas Augmented Reality Roll dreht und dehnt sich Sprache, Rhythmus und Harmonie immer auch in die entgegengesetzte Richtung. Die Richtung, aus der wir/sie gekommen waren. 

Wenn die Idee von einem Monoposto war, den Beifahrer durch einen Rückspiegel zu ersetzen, und fortan im Auge des Fahrers die Strecke vorwärts wie rückwärts laufen zu lassen, dann lässt sich auch auf einem Stuhl sitzend, mit auf den Lidern aufgemalten Augen ein U–Turn vollziehen. Ein Mandrill wird schnell zur Sphinx. Und ein Weinschwärmer sieht soviel wie eine Feuerwanze. 

Trockensumpfschmierung in der Box: Von einer Stirnradkaskade angetriebene Nockenwellen sorgen durch ihre Drehbewegung für eine zusätzliche Verwirbelung des Heliumnebels im Kurbelgehäuse. Das ist natürlich kaum zu fassen. Vorbei die Nasssumpfschmierung von Shame Over! Du Hörer musst jetzt mal selber in die Seile greifen und wellenartige Bewegungen ausführen, die Seile ziehen und knallen lassen. Wird dir schwarz vor Augen, hast du wieder beide Hände frei.

Linernotes zu Musik: IPPIO PAYO & GENELABO – Nobody Answers Questions

Auf auf, in die Nacht. Wir lassen Haus, lassen Land. Kein Morgentau hält uns! Fort mit uns, ins dunkle Meer! Wir verlassen uns auf das Boot, es heisst Roditelj. Die Väter sind in den Bergen, sind hinter den Bergen. Das Boot hat zwei Masten, wie neue Eltern. Alte Bracera, trag uns auf Winterwellen und trotze der Bura, dem Wind aus Nordost. Trag uns weit fort, es nahen die Faschisten! 

Menschen sind auf der Flucht, während sich diese Platte dreht. Die Schallwellen auf dieser Platte wissen noch nicht, wohin es sie treibt. Doch Linien werden gezogen. Eine führt von Vis nach Bari, am Ende des Jahres 1943, von Jugoslawien nach Italien, von einem Camp zum Nächsten. Alte, Frauen und Kinder, Jüdinnen und verwundete Partisanen, im Geleit der süditalienischen Resistenza und der britischen Befreier. Aber die Reise fängt schon vor Vis an, mit so vielen Linien, die von so vielen anderen Inseln und Orten aus ihren Lauf nehmen. Von Makarska und Korčula, Brač und Šolta, Vodice, Hvar und anderswo, sammeln sich Zehntausende in Vis und queren die Adria. Und ihre Reise endet nicht dort, in Bari, Tuturano und Taranto. Es geht runter, auf größeren Schiffen aus Stahl, im Februar 1944. Unter schützenden Sternen und Stampfen der Maschinen unter Deck geht es runter nach Afrika! 

Jemand Kluges hat einmal gesagt, für Fische sind Seen Inseln. Und dennoch sind die Fische auf diesen Inseln aus Wasser nicht unbedingt in Sicherheit. So ähneln in dieser Szenerie die Flüchtenden den Fischen, in ständiger Furcht, in ein Netz zu geraten, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Das Meer ist ihnen eine Insel, aber was wird sie am anderen Ufer erwarten? Unter der Meeresoberfläche lauern Minen und U-Boote, und der Himmel droht mit Angriffen aus der Luft. 

Und dann öffnet sich dem Blick nichts weiter als weiter Sand. Nach Port Said, Ägypten, liegt vor uns, am Ende einer geisterhaften Bahnstrecke: El Shatt. Weiße Stoffstadt, in Reih und Glied inmitten der Wüste Sinai. Nicht Himmel, nicht Hölle. Untertags ein Fegefeuer, nachts eiskalt wie ein Grab. Anderthalb Jahre teilt sich in den britischen Segeltuchzelten die Kommune der Vierzigtausend ihr Bett und Brot, ihren in Kommitees organisierten Alltag. Es bleibt Zeit für Kulturleben mit Theater und einer Chorgruppe unter Star-Leitung von Josip Hatze aus Split. Von den unter-Zweijährigen und den Alten werden Viele das neue Jugoslawien unter Leitung von Josip 'Tito' Broz nicht mehr erleben, sie bleiben dort, unter dem Wüstensand von El Shatt.

Es ist nun über zwanzig Jahre her, da mein Freund, der Musiker Josip 'Ippio Payo' Pavlov, in Zagreb in den Nachtbus stieg, über die Alpen fuhr und in München eine neue Heimat fand. Ein Denken in Nationalismen ist Josip, der auf der Insel Murter aufwuchs und sich selbst als Illyrer bezeichnet, völlig fremd. Die Historie von El Shatt begleitete ihn erst, als er vor zwei Jahren auf Solo-Tour mit Bus und Bahn und der Buchlektüre von Alida Bremers „Olivas Garten“ in Süditalien zwischen Bari und Taranto unterwegs war. Zurück in München, war es Gene 'Genelabo' Aichner, der El Shatt als Handlungsanweisung verstand, die Fluchtgeschichte als Leitmotiv für eine Audiovisuelle Performance aufzugreifen. In Korrespondenz zu Josips musikalischem Uhrwerksystem aus Gitarrenläufen und Arpeggios, Standpauken- Glockenspiel und elektrischer bis elektronischer Raumerweiterung, entwirft Gene Räume aus Projektionsverläufen und Mapping. Live im Spiel wirft Gene dann über Josips Klangrauschen sein Netz aus Lichterlinien, das sich im Rhythmus dreht und wandelt, mal das fluide Wesen des Wassers nachzeichnet, mal die Wände auf- und abklettert. Grenzlinien verschieben und auflösen, ein Spiel mit offenem Ausgang.

Linernotes zu Musik: JASON ARIGATO – Jason Be Sad/Jason Be Glad

Ein E-Dur-Akkord klopft an. Jasons echologische Sonografie beginnt. Wie ein Wellenbrecher im Ozean der Frequenzen stehe ich in der Schallkurve. Mit leicht angewinkelten Beinen, den Oberkörper nach vorne gebeugt, den Kopf zwischen den Boxen. Zuvor habe ich an der Soundanlage das kleine Loudness- mit dem großen Volume-Rad synchronisiert und bei Stufe Sieben eingepegelt. Vorkehrungen, die getroffen werden mussten, um Jason Be Sad / Jason Be Glad wirklich zu erfassen, von der Musik erfasst zu werden – Stereophonie ist maßgeblicher Bestandteil dieser Aufnahmen. Es zählt die Summe, gehört in Isolation, aus zwei Kanälen kommend. Da bleibt dem Kopf was zu tun. Der befindet sich langsam in einem intimen Erfahrungsraum, sich bald öffnend als still geglaubtes Jugendzimmer, sich bald wandelnd in schwingendes Gewebe der Jahrzehnte. Ich höre Konstanten: Wellen der Angst im Schlafsaal, die Liebe im Lesesaal. Unerreichbar, wie in einer fernen Galaxie, die Klasse der Bibliothekarin. Zwei Ausgänge, links der unendliche Rausch, rechts der endliche Tod. 

Schließlich erzählt diese Platte von Isolation. Nicht von "Einsamkeit/Loneliness", jener romantisierten, stilisierten Mystifikation von Isolation, die es im kanonisierten Repertoire aller Populärmuik zu hören gibt. Jene "Einsamkeit" verhandelt Jason Arigato nicht. Nein, was ich hier höre, ist der Jugend Isolation ... und Techniken ihrer Überwindung, Überbrückung. Anknüpfungsversuche im Widerhall einer Re-connection. Hier wird sie existenzialistisch ernst genommen, die Klasse der Jugend, ihr Isoliertsein von der Welt. Ich erinnere mich: An die warme Semmelluft in den gelben Telefonzellen, das Blättern in den tausendseitigen Telefonbüchern einer Stadt. An die Versuche, mit der richtigen Münzkombination eine Extrarunde hinzubekommen. An Telefonstreiche mit spätlüsternen Pensionären und prophetischen Bibliothekarinnen. Und das erwartungsvolle Hoffen auf die Offenbahrung einer interplanetarischen Dimension mittels ruckelnder Stimulation der Wählscheibe des mausgrauen Haustelefons. Bewusste Falschbedienung des Apparats. Das Eindringen in fremde Ferngespräche, die Stimmen kaum hörbar, übertönt von Säuseln und Pfeifen. Ganz ähnlich den Geisterstimmen auf den Langwellen der äußersten Randzonen des Radios.

Diese in ferner Vergangenheit versunkene Welt höre ich in Jasons Platte. Und die Grundschule mit den Geister- und Kriegsgeschichten von Herrn Feldmann. Der wie ein Beatnik im Anzug ergraute Klassenlehrer fabulierte uns Kindern was von der Existenz telepathischer Kräfte und universeller Verbindungen am Beispiel eines Experiments der Marine mit Wolfsmüttern und ihren Welpen: Ab einer gewissen Tauchtiefe war kein Funkverkehr zwischen U-Boot und Festland mehr möglich, sorgte man aber dafür, dass es den Welpen im Boot nicht gut ginge, zeigte die Mutter an Land eine eindeutige Reaktion, die zeitlich exakt korrespondierte. Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist, aber nun, beim Hören dieser Platte, kommt sie mir wieder in den Sinn. Und ich glaube, dass es in Jasons Stereophonie eben darum geht: Erzeugung von Isolation, Zusammenführung in Wellenform, Aufhebung der Isolation. Eine Space–Age–Voodoo–Simulation.

2021-04-13

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (8)

8th Leg / Erinnerung an Malambo:


»Tonkino« – ein Wort im Niemandsland. In kapitalen Lettern steht es auf der Außenwand von einem einstöckigen Haus mit Walldach, halb Dorfschule, halb Zeughaus, verschlossen und stumm ... allein drei Stufen und dies überschriftliche Wort heben es ab von der menschenleeren Hauptstraße: Das »Tonkino» von Großkadolz im niederösterreichischen Weinviertel. Mit der Fluchtlinie ins Pulkautal gehört ihm die Vorspielsequenz. Ein junger Mann in Schuljacke, Koffer in der Hand, wirft einen letzten Blick darauf. »Keine Fessel haltet ihn – Ehrich Weiss« steht auf dem Koffer, wie auf einer Piratenflagge. Im nächsten Bild ist der Kofferjunge schon auf dem Feldweg Richtung Wien, mit dem Kopf noch einmal im Projektionsraum von diesem stillen Tonkino – zur Vorführung einer Selbstbefreiung aus der Zwangsjacke.


Klaus Rohrmoser ist Chris, Entfesselungskünstler auf der Suche nach Engagements als Ehrich Weiss, dem bürgerlichen Namen von Harry Houdini. Eine menschliche Traumwolke, zum Regnen nicht bereit, die einfach durch »Malambo« gleitet, längst vergessenes Filmdebüt von Milan Dor. Worte aus dem Projektionsraum: »Man soll überhaupt nur das Unmögliche versuchen. Weil das Mögliche sowieso mühelos und ohne Widerstand geschieht. Man muss Widerstand leisten. Um leben zu können.« Milans Vater Milo Dor, bedeutender Wiener Schriftsteller, der wie Houdini in Budapest das Licht der Welt erblickte, gibt uns diesen bedeutenden Rat mit auf den Weg. Als Zaubermeister, mit einer weißen Taube im Schwarz der gegenlichternen Sonne.


Im Wien von Malambo sind Milan Dors Kindheit und Jugend in Belgrad mit im Gepäck, Banat und Jugoslawien noch real existent. Alle suchen ihr Glück in Wien, die Schauspieler im Film wie im echten Leben. Aber Glück und Erfolg sind zwei Paar Schuh! Miodrag Andric will in Wien auch nach seiner erfolgreichen Darstellung vom erfolglosen Mischa keiner kennen. Derweil ist Andric damals schon vor jugoslawischen Fernsehschirmen gefeierter Stand-up Comedien. Auch für die Israelin Nirit Sommerfeld wird auf ihre Darstellung der traumfängerischen Nada keine große Karriere beim Film folgen. Für Malambo verzichten sie alle auf ihre Gagen. Sie werden für immer das Fantasien von Chris bewohnen, der kein einziges Kunststück beherrscht, aber die innere Ruhe nicht verliert.


Mit dem eigentlichen Malambo, einem von Trommlern geführten argentinischen Stampftanz, hat nun dieser poetisch luftige Malambo freilich nichts zu tun. Nach einer retrospektiven Wiederaufführung auf der Diagonale Graz erklärt Milan Dor, er habe den Titel einfach deshalb gewählt, weil er sich vorstellte, dass das Wort auf einem Plakat gut wirken müsse. Ich erinnere mich so gern an jene Vorstellung im Kino Rechenbauer, ziehe den versunkenen Malambo sämtlichen millionenschweren Dor-Filmen vor. Nicht zuletzt wegen der wunderschönen Musik von Flora St. Loup! Die dafür sorgte, dass das Malambo-Wien schon 1984 nostalgisch schwang. Der 8th Leg von Le Millipede erinnert mich nun auf wundersame Weise an ihre Musik, und damit an Malambo. An die Entfesselung der eigenen Spielregeln. An ein kurzes Stück Autonomie. An das seifenblasene Glück der Straße.

                      -Pico Be in der Au, 13/04/2021


Malambo (Österreich 1984, Regie: Milan Dor. Kamera: Toni Peschke. Schnitt: Eliska Stibr. Mit: Klaus Rohrmoser, Miodrag Andric, Nirit Sommerfeld, Dietrich Siegel, Oliver Stern, Dagmar Schwarz, Georg Trenkwitz u.a.)


DVD Der Österreichische Film / Edition Der Standard #63 / Hoanzl / filmarchiv austria