2021-01-31

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (5)

5th Leg 

Der Film, den wir hören, handelt von hämmernder Zermürbung, dröhnendem Glanz, Dämmern und Schwelen. Ein laufender Zustand. So handelt der Film nicht, er schwelt. Der Dringlichkeit Verdünnung durch Zeit und Zeitspannen auf der Spur. Das Morgen schieben, schieben und weiter schieben, bis kein Jetzt im Heute mehr bleibt. So spüren wir ein fortschreitendes, kontinuierliches, träges Entrinnen allen Glaubens an eine Wendung. In weißen Hemden mit Rüschen, in Kleidern, die nicht aus diesem Jahrhundert sind. In nächtlichen Kreisbewegungen und Einkreisungen der Flamme, die sich selbst erstickt. Wir wollen also nicht von einer Handlung sprechen, die die Verarbeitung sovieler Handlungen ist, ausschweifend und beiläufig Handelnder im Pariser Mai '68, um als Geschichte einer Verstummung zu enden. Lieber wollen wir die Anstrengung spüren, die ganze lange Nacht in einer Dachrinne auszuharren, das Versteck nicht vor der Erschöpfung aufgeben zu können, im Wissen, dass die Suchtrupps der Police-Bande schon die Nacht beherrschen und bei Tagesanbruch schlafen gehen. Was war da, im pochenden Mai '68, und danach, im Kopf, im Projektor von Philippe Garrel. Louis Garrel sinkt angeschwärzt von der Nacht in den Sessel und klagt, die Arbeiterklasse wolle nicht die Revolution, sie wolle nur mehr Geld, und die Gouvernante pflichtet ihm bei, putzt Louis die Schuhe und bereitet ihm das Bett. Das lange Ausstehen der trikoloren Hissung, die Abhängung in Rauchschwaden. Ein Zimmer weiter, Maurice Garrel sitzt unter der Regie seines Sohnes seinem Enkel Louis am Küchentisch gegenüber, der alte Schauspieler lacht gut, er weiss, dass Messer zwei Seiten haben, die sich gegenseitig decken, und weiss, wie man die Butter verschwinden lässt. Und die Mutter lacht gern, die Schauspielerfamilie lacht echt, sie legt die Arbeit nieder. Es bleibt das Spiel. Die Glücksbringer schwinden, nach und nach, dem Ausgang entgegen. Ein kurzer Triumph an der Tür, nicht abholbar, nicht zu stören, unerreichbar. Ungemustert, aber den eigenen vier Wänden verhaftet, gefangen im Quadrat, im Schlaf, in der Kamera von William Lubtchansky, das lange Ende kurz vorm Erwachen, kurz vorm Erwachen das Ende.  

 Unruhestifter (OT: Les amants réguliers, Frankreich 2005, Regie: Philippe Garrel. Kamera: William Lubtchansky. Drehbuch: Arlette Langmann, Marc Cholodenko. Mit Louis Garrel, Clotilde Hesme u.a.) -------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- »Beunruhigt nahm ich an mir die Anzeichen einer gefährlichen Lethargie wahr, die Anzeichen eines pflanzenhaften Lebens, das allmählich von mir Besitz ergriff und jedes Gefühl der Freude zunichte machte. Und die Gelassenheit, die ich glaubte, so leicht erlangt zu haben, empfand ich auf einmal als Stumpfsinn, der mich stundenlang schläfrig am Kaminfeuer festhielt oder schlaftrunken ziellos durch die Straßen irren ließ. Ich bewegte mich dann wie von einem Mechanismus gesteuert.« (Adelaida García Morales, Das Schweigen der Sirenen, Suhrkamp 1985)

2021-01-14

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (4)

 4th Leg

Jetzt, da wir in langen Schritten gehen

werden wir ruhig Lügen erzählen

Über das Meer rennen die Hasen 

und im Gebirge die Sardinen

meinen Rastplatz verließ ich


mit dem Hunger von sechs Wochen

traf ich auf einen Pflaumenbaum

von oben bis unten voll Äpfel

bewarf ihn mit Steinen

und herab fielen Nüsse


Mit Rascheln und Knacken 

drauf des Birnbaums Besitzer

kam haselnd herbei

Kindchen, wirf keine Steine!

das Melonenfeld ist nicht meines!


Es gehört der armen Witwe

aus Fuencarral, frisch vermählt

haust sie im El Escorial 

heisst sie Maultiere tränken

im Schatten Wägen stehen


Jetzt, da wir kurzbeinig eilen

und keine Lügen mehr zählen



 ... frei nach Vamos a contar mentiras. Das populäre Kinderlied

diente Luis de Pablo (*28.01.1930) als Grundlage für die Filmmusik zu

Der Geist des Bienenstocks (OT: El espíritu de la colmena, Spanien 1973, Regie: Victor Erice. Kamera: Luis Cuadrado, Teo Escamilla. Produktion: Elias Querejeta. Mit Ana Torrent, Fernando Fernán Gómez, Teresa Gimpera u.a.) 


Die Worte aus Vamos a contar mentiras sind im Film nicht zu hören, sie liegen als unartikulierte Geheimspur unter de Pablos Kompositionen. 


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Fußnoten:


Luis Cuadrado an der Kamera erblindete noch während der Dreharbeiten und schaffte es dennoch, mithilfe von Vergrößerungsgläsern über Polaroids gebeugt, die Lichtwerte zu bestimmen und, mithilfe seines Assistenten Teo Escamilla, honigfarbene Bilder zu komponieren, die augenscheinlich von Lichtmeistern des 17ten Jahrhunderts, allen voran Vermeer und Zurbarán, beeinflusst sind. Cuadrados Vater war Restaurateur von Glasfenstern und Glasmalereien, so lieferte er die atmosphärisch so wichtigen Bienenwabenscheiben für den Salon des Hauses. 


Victor Erices magische Filmpoesie ist ein Schlüssel, um durch die Leinwand hindurch zu einer anderen Realität zu gelangen. Gedreht wird in die Zeit direkt nach dem Spanischen Bürgerkrieg hinein, in die frühen Vierziger Jahre, noch aus der franquistischen Diktatur der frühen Siebziger Jahre heraus, in einem kleinen kastilischen Dorf inmitten der weitfurchigen Ebenen des Getreidegürtels, Hoyuelos in der Provinz Segovia, aber gesucht wird eine ganz andere Ebene, eine, die aus der verschleierten Welt der erwachsenen Lügen und falschen Lebensauffassungen herausführt. Die siebenjährige Ana entdeckt ganz allein, unter dem Eindruck eines Kinoerlebnisses, ihren Geheimweg. 


Zwei Jahre später würde Ana Torrent ihre nicht furchtlosen aber weit offenen Kinderaugen für Carlos Sauras "Cría Cuervos – Züchte Raben" geben. Offen für den Kontakt zu freundlichen Fremden und Geistern, offen für den Tod von monsterhaften Erwachsenen in der Enge der Familie. Ein noch nicht zehnjähriges Mädchen vor der Kamera, das vor allen erwachsenen Professionellen im Cast als neuer Star aufgeht und mit erwachsenen Preisen für das beste Spiel versehen wird. Für die Ana aus "El espíritu ..." erhielt Ana den Fotogramas de Plata, begehrtes Silbernes Fotogramm für die beste darstellerische Leistung. 


Fernando Fernán Gómez gab den in sich gekehrten Gelehrten und Bienenzüchter, der aus Maurice Maeterlincks "Das Leben der Bienen" zitiert, aber unausgesprochen lässt, auf welcher Seite der Wahrheit er wirklich steht. Im echten Leben ließ der als Theater- Film- und Literaturgeist hochgeschätzte Komödiant Fernán Gómez über seine Gesinnung gar keinen Zweifel: Als ihn 2007 im Alter von 86 Jahren das letzte Geleit ereilte, zierte die schwarzrote Fahne der Anarchisten seinen Sarg.


Luis de Pablo musste im Jahr von "El espíritu ..." ins Exil: Ein Jahr zuvor hatte de Pablo die Encuentros de Pamplona initiiert – ein Festival für Musik, Theater, Kino und bildende Kunst – und wurde dafür sowohl von Franquisten, als auch von der ETA attackiert. Technologische Avantgarde und Hochkultur steht eben gerne im Verdacht, sie stehe auf Seiten der Macht. Luis de Pablo steht für die Gruppe Alea und das erste elektroakustische Studio in Spanien. "Er übersetzte die Schönberg-Biografie Hans Heinz Stuckenschmidts und Schriften Anton von Weberns, organisierte 1964 eine Biennale für zeitgenössische Musik und führte mit all diesen Aktivitäten die spanische Musikwelt aus ihrer durch den Franquismus verursachten Isolation."(wikipedia)


Mathias Götz' alias Le Millipedes Komposition 4th Leg lässt an Maeterlincks Beschreibung der Bewegung in seinen Glasbienenstöcken denken, an "das Gangrad einer Pendeluhr; das unüberschaubare Treiben der Waben, das unaufhörliche, rätselhafte und tolle Wogen der Ammen über dem Brutraum, die von den Wachsbienen gebildeten lebendigen Stege und Leitern, die übergreifenden Spiralen der Königin", und speziell auch an die Eröffnung, an das Filmdenken im Film: Ein Wagen kommt langsam in das Dorf geeiert, vollgepackt mit Projektor samt Zauberkisten, und ein betagter aber vom Idealismus einer guten Illusionsmaschine beseelter Vorführer klettert heraus wie aus einer Postkutsche in einem Western, was augenblicklich auch mit einer getröteten Fanfare und der auf dem Dorfplatz verkündeten Filmvorführung unterstrichen wird. 


Ein echtes Kinohaus gibt es in Hoyuelos, diesem Niemandsdorf, ebensowenig wie ein Theater, also wird der Film, ein Schwarzweißfilmklassiker aus dem Jahre 1931, in einem leerstehenden Geräteschuppen an die Wand projeziert. Die Vorstellung für Ana, ihre Filmfamilie und die anwesenden echten Dorfbewohner ist in dem Sinne "echt", da wir gezeigt bekommen, wie sie den Film tatsächlich vorgeführt bekommen. Und Mathias hat tatsächlich bereits Filmmusik produziert für einen Dokumentarfilm, der einen Mann bei eben genau so einer Arbeit portraitiert: "Der Kinomann" heisst der Film, Matthias Ditscherlein der Regisseur, und Helmut Göldner aus Sieglitz der älteste seiner Zunft, seit sechzig Jahren in Sachsen als Filmvorführer von Dorf zu Dorf auf Achse.


Letzte Fußnote:

Ein Klavier tritt in "Der Geist des Bienenstocks" auch in Erscheinung: Teresa spielt darauf, wie um eine Ritualhandlung zu begehen, mechanisch und geistlos. Das Klavier ist total verstimmt.