2012-12-27

Meine Platte: Der Lunsen-Ring

Herrscherzeiten – der Tanz um den „Lunsen-Ring“


Die Kamele sind nun im Corte Inglés von Badajoz geparkt, meldet das kaufmännische Portal Bedin. Vom sechsundzwanzigsten Dezember bis fünften Januar gebe es dort, im größten Kaufhaus jener spanischen Provinzstadt, die Möglichkeit, jene Tiere zu bestaunen, die am sechsten Januar die Heiligen drei Könige durch Madrid tragen sollen.
Die Parade der Reyes Magos, der "Zauberkönige", wie sie in Spanien weniger amtlich tituliert werden, ist dort der festliche Höhepunkt der Weihnachtszeit. 

Es ist weniger die göttliche Geburt, denn deren Anerkennung durch die weltlichen Kräfte, die den Spaniern Anlass zur Freude gibt. Sogar die allgemeine große Bescherung erfolgt dort erst an dem Datum, da dem Säugling die weit hergebrachten Geschenke in die Krippe gelegt worden sein sollen. Eine Identität stiftende Parallelhandlung, die Kindern die Möglichkeit eröffnet, von kleinauf ein kumpelhaft kollegiales Verhältnis zu Jesus zu pflegen. Du kriegst Geschenke? Ich auch! Jedenfalls wird in Madrid der hohe Besuch der Magier aus dem Osten, der persischen Sterndeuter, der zoroastrischen Priester oder eben Königsleute von Gottes Gnaden sehr ernst genommen und jubelnd Willkommen geheissen. 

Wochenlang werden alljährlich vorher die bunten Stoffe für die Entourage der Könige genäht, Mond und Sterne geklebt, Kostüme geschneidert. Das Morgenland grüßt mit einer Farbenpracht, die im schwarzweißen Outland niemals gesehen ward, eher in einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Oder auf dem Cover von "Their Satanic Majesties Request". Denn nicht viel anders sieht er aus, der weihnachtliche Hofstaat von Madrid. Sieht man die Zauberkönige Kaspar, Melchior und Balthasar den Paseo de la Castellana hinabreiten, so sieht man die satanischen Majestäten Keith, Mick, Brian, Charlie und Bill vor ihrer kunterbunten Kirche kauern, und umgekehrt. Natürlich ist auf dem Cover auch ein Kamel abgebildet. Und John, Paul, George und Ringo, als Blumen. Ein satirischer Reigen, East meets West als satanische Ökumene, ein abendländischer Scherz. Die Rolling Stones klingen auf dieser für nie ganz voll genommenen, arabesken Platte, als wollten sie nicht irgendeinen Kindergeburtstag, sondern den Highland persönlich feiern. Ich denke, es ist nicht ganz richtig, das Album nur als ironische Replik auf "Sgt. Pepper" zu interpretieren. Am 8ten Dezember 1967 erschienen, kam es exakt am selben Tag wie "Magical Mystery Tour" auf die Welt, und auch ästhetisch laufen diese beiden Scheiben viel eher parallel als "Majesties" und "Sgt. Pepper". In gelben Bussen oder per autostop zogen die jungen Gammler und Hippies damals gen Osten. Nach Istanbul, Beirut, Iran, Indien und Afghanistan.

Anno 2011 kam nun ganz nebenbei ein Werk auf die Welt, welches den Hörer aus der Zeit fallen, und an die Rockopern jener Tage denken lässt. Der "Lunsen-Ring" zieht fast gänzlich unbemerkt seine schlafwandelnden Kreise auf dem endlosen Rillenmeer der unerhörten Schallwellen. Als wäre er ein fliegender Holländer aus dem Jahre 1967.
Der Kreuzberger Künstler und Dichter Hank Schmidt in der Beek lässt darauf dem Schlaf eine noch größere Bedeutung beikommen, als es annodazumal die Surrealisten taten. Der Schlaf ist hier Leitmotiv und Menschheitsrecht – vor dem Schlaf sind alle Menschen gleich. Tatsächlich haben wir es hier mit einem Plädoyer für die Völkerverständigung zu tun: "Pantalon sagt der Franzose, ich selber sage Hose. Und was ich den Tragkorb nenn', bezeichnet er als benne. Doch was tatsächlich uns vernabelt, mich und den Franzosen, ist nicht der Zauber der Vokabeln, noch sind es uns're Hosen. Warum der Vers uns zwei vereint, zu raten keine Kunst: Uns beide drückt es tief hinein, tief in uns're Luns."

Um der Einfachheit halber bei kulturellen Klischees zu bleiben, könnten wir uns nun auch ausmalen, wie die Darsteller der Reyes Magos vor ihrem abendlichen Ritt durch Madrid genüsslich auf dem Sofa dösend die landesübliche Siesta, das Nachmittagsschläfchen, pflegen. Oder wir hören noch einmal in "Their Satanic Majesties Request" hinein, in den Song "In Another Land"; und hören dort Bill Wyman unverschämt laut schnarchen. Das kommt davon, wenn man zur ausgemachten Uhrzeit ins Studio geht – keine Sau da, also erstmal ein Nickerchen. Und prompt wurden Bill's Träumchen mitgeschnitten... 

Nun denn, die Musik vom "Lunsen-Ring" zu beschreiben wäre gewiss schnell ermüdend. Ich will dafür in einem Dreischritt probieren, die Bahnen der drei Verursacher Hank Schmidt in der Beek, Nick McCarthy und Sebastian Kellig einzukreisen.
Die Vokabel „Luns“ findet sich übrigens im Manischen, einem im Hessischen beheimateten Soziolekt. Und bedeutet Bett, oder einfach Schlafplatz. Soweit wären wir also.
Beginnen wir nun unseren Rundlauf. Zum Beispiel mit dem "Watusi":
Irgendwann im Jahr 2008 schickt Hank einen offenen Brief an die Obamas, in welchem er ihnen einen guten Kunstgeschmack attestiert, und ihnen zu ihrer Entscheidung gratuliert, die Cowboy- und Kakteenbilder der Bushs aus dem Weißen Haus verbannt zu haben, um statt ihrer eine wohldosierte Auswahl von Meistern der abstrakten Moderne nebst Popkünstlern aufzuhängen. Kernstück der Sammlung sei der Watusi. Das Werk der afroamerikanischen Malerin Alma Thomas datiert auf das Jahr 1963 und zitiert einen Matisse von 1953 namens "Snail". 

Watusi bedeutet dreierlei: Ein in Afrika beheimatetes Tier – ein Stier mit ganz dicken Hörnern, verwandt mit dem Auerochsen, aber viel imposanter, was die Hörner anbetrifft. Ferner wird die Bezeichnung "Watusi" zuweilen den Mitgliedern der Volksgruppe der Tutsi untergeschoben. Und nicht zuletzt steht Watusi für einen Modetanz aus der Ära, als die amerikanischen Teenager den Tanzschritten von "American Bandstand" aus Philadelphia und der "Buddy Deane Show" aus Baltimore folgten: "The Wah-Watusi" war zum Zeitpunkt der Entstehung des Bildes ein populärer Tanzbodenschwinger. Im Song selber werden andere Tänze jener Zeit zitiert, etwa der "Fly" oder der "Pony", von denen die Lyrics aber behaupten, dass sie nicht so toll seien wie eben der Watusi. Von den vielen Tänzen hatte ein Jeder seine eigene Grammatik, und in vielen Fällen sollten die Tanzschritte als bildhafte Korrelate zu archetypischen Bewegungsmustern bestimmter Vertreter aus dem Reich der Tiere verstanden werden. Wer "Hairspray" von John Waters gesehen hat, weiß Bescheid.

"Watusi". Alma Thomas, 1963
"Children Dance Children Dance".
William H. Johnson, ca 1944
Hängt auch bei den Obamas.


Eine Kopie des Obama-Briefes ereichte mich jedenfalls just in dem Moment, da ich gerade beschlossen hatte, den Song "Land of 1000 Dances" als Ausgangspunkt für eine kleine Textarbeit über den Jemen zu verwenden. Der Watusi spielt in "Land of 1000 Dances" eine nicht unwesentliche Rolle.
 
Ein Jahr zuvor war ich mit Sebastian Kellig, Sebastian Meyhöfer und Daniel Murena unter dem Namen Kamerakino in musikalischer Mission im Jemen gewesen. Seb Kellig, in London lebender Musiker, Therapeut und Produzent der Seifenoper "Videodrama" – er wird die folgende Szene aus unserer Zeit in Sanaa bezeugen können:
Am Abend der dritten Nacht haben wir eine Audienz beim Minister. Beim Minister für Sport und Tourismus sitzen wir mit verschränkten Beinen in seiner Polstergallerie und sehen einen Tanzfilm. Der Minister gibt uns eine Unterrichtsstunde in jemenitischer Kultur, zeigt uns, wie man das Qat kaut und wie der Bara getanzt wird. Der Jemen verfügt über genau einen Traditionstanz, den Bara, und dieser hat etwas außerirdisch Roboterhaftes. Mich erinnern die gleichförmigen Schritte an einen gothic Wavetanz oder an Fliegen, die minutenlang in der Luft eine Bahn nachziehen. Man liegt in einem Hotelzimmer im August auf der faulen Haut und beobachtet diese zwanghaften Fliegen. Als würden sie einem Bann unterliegen, drehen sie ihre Achter oder Unendlichkeitszeichen durch die Raummitte.
Der Jemen ist eine Monokulturlandschaft, denke ich beim Betrachten des Baras, und träume mich unwillkürlich in ein anderes Tanzvideo hinein, in "Land of the 1000 Dances" von Danny & The Memories – ein Scopitonevideo von 1964, und eine Variation des Wah-Watusi-Motivs der Orlons mit Ray Barettos "El Watusi" gekreuzt. Eine erneute Auflistung aller aktuellen Modetänze in einen neuen Song verpackt. Während im Jemen, im Land von Tausendundeiner Nacht, also immerzu der Bara getanzt wird, drängt sich mir als Traumutopie das Land der 1000 Tänze durch den Kopf. 

Danny & The Memories spielen noch heute zusammen, wenn auch ohne Danny Whitten. Man kennt sie unter dem Namen Crazy Horse – der Backingband von Neil Young. Seb und ich waren uns über die Dauer unseres Aufenthaltes im Jemen einig, dass die übersteuerte Sturheit von Crazy Horse das wildwesterne Straßenbild dort perfekt zu untermalen vermag.
Nun hatten wir eine gemeinsame Begleitlektüre in Sanaa dabei – "Nah Inverness" von Michael Roes. Darin wird der Versuch geschildert, Shakespeare's Königsdrama "Macbeth" im Jemen mit Laiendarstellern vor Ort zu verfilmen. Natürlich wird in "Nah Inverness" auch der Bara getanzt. Eine schöne Bettlektüre.
Ungefähr zeitgleich, möglicherweise etwas eher, arbeiten Hank und Nick McCarthy, in London lebender Popstar, an einer Inszenierung von Shakespeare's "Tempest" – mit Auswirkung auf das dritte Franz Ferdinand Album, und auf die Sinnfälligkeit dieses Textes: 
Nick bediente sich im "Sturm" beim Monolog der Figur des Caliban für ein hübsches Wiegenlied, das am Ende von "Tonight" steht – "Dream Again". 
Franz Ferdinand gaben übrigens im Juni 2008 einen Secret Gig vor 150 Fans in einem Londoner Pub namens "The Macbeth". Wenige Wochen, bevor sich das Appartement von Seb in eine Schlafhöhle für die (diesmal echte) Münchener Band Kamerakino verwandeln sollte. Die ihr erstes Londoner Konzert ebendort spielen durften, im "The Macbeth". 

Als Seb und Nick im Frühjahr 2010 schließlich die Londoner Sausage Studios betreten, um sich an Hanks "Lunsen-Ring" zu wagen, wird die Freude über die von Hank verordnete literarische Bettruhe als willkommene Medizin gegen Alltagsstress und Tourleben spürbar und hörbar.

Und so stehen wir vor dem eingangs genannten Genrebegriff Rockoper wie in einem Spiegelkabinett, in dem wir über die Landung der Zauberkönige, das Kauern der satanischen Majestäten, die Tanzkreisbilder des weltlichen Herrschers Obama, die Tanzlektionen des jemenitischen Sportministers Fakih, und schließlich die Traumtänze des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand einzig und allein aus dem Grunde stolpern, um am Ende bei Shakespeare's Königsdramen rauszukommen. „I’ll cry to dream again – I'll live to dream again". 

Die Abwesenheit der Träume, ja, das ist es, worum es nicht zuletzt auch bei den frugalen Bettgeschichten des Lunsen-Rings geht. Eine nachtschwarze Platte voller angelsächsischer Cheerleaderchoräle, jemenitischer Folklore, Pubrock bis Progrock und Betthupferl aus dem höfischen Bauernbarock, gespannt wie ein Spannbettbezug. Und aufgeschlagen, als möglichen Kommentar auf die Lage der Welt, finden wir eine Seite in einem Buch von Hülsenbeq, mit der lapidaren Frage: „Vielleicht will der Westen ja gar nicht leben?“ Nun denn, vielleicht will er ja schlafen. Mit dem Sonnenaufgang im Osten schlafen gehen. 
In Hanks Libretto ruht ein Humor, mit dem manch täglich mit sich selbst ringender Feierabendathlet ruhig einmal ins Bett gehen sollte. Am Ende drückt es alle in die Luns. Oder, um den gerne bettlägrigen Werner Enke zu bemühen - es wird müde enden.


Luns Records, 2011 / 300 Stück

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