2012-12-17

Ochsenzoll

Ochsenzoll – Bohlmann und die Kunst der Fuge

Ein ebenso schwieriges wie unbeschwertes Verhältnis zu Kunst und Kultur teile ich mit meinem Studienfreund Hank Hakenschlag. Die großen Museen waren für uns in erster Linie immer Orte der Zuflucht. Ein Beispiel: 
An einem müden Maimorgen 2002 saßen wir vor unserem erledigten Frühstück an einem Außentisch an der Theresienstraße. Uns war ein bisschen fad. Wir hatten uns dort nur hingehockt, um zu schauen ob jenes Ecklokal irgendeinen Anflug von Erinnerungen an das alte Café Stefanie zulassen würde. Das Café Stefanie soll dort um die vorletzte Jahrhundertwende der wichtigste Künstlertreffpunkt Münchens gewesen sein. "Café Größenwahn" hatte man es damals gerufen. Außer an unserem Tisch merkte man bei unserem Theresienstraßen-Frühstück davon aber nix. Wir hatten uns hundert Jahre zu spät dort hingehockt, und als es uns grad hübsch langweilig zu werden drohte, sagte ich zu Hank: „Du, lass uns einen sanften Abgang machen, nimm dir schonmal ein bisschen Vorsprung“. Hank verstand sofort. Hätte ja auch seine Idee sein können. „Okay, wir sehen uns dann bei der Schmerzensmutter,“ gab er zwinkernd zurück und war auf den Beinen. Was ich wiederum sofort verstand, hatte mir Hank doch soeben erklärt, die „Schmerzensmutter“ wäre jenes Dürer-Großbild in der alten Pinakothek, welches sich von dem Säureattentat von 1988 noch immer nicht ganz erholt haben sollte. Er war schon außer Sichtweite, und als die Bedienung ebenso wenig zu sehen war, erhob ich mich, um möglichst ohne einer Spur von Aufbruchsstimmung nach drinnen zu gehen, ganz kurz im Klo zu verschwinden und dann beim Rausgehen nicht mehr an den Platz zurückzukehren. Hat man keine Jacke dabei gehabt, oder die Jacke erst gar nicht ausgezogen, dann ist das ohne einer auffälligen "ich-verlasse-jetzt-den-Tisch"-Geste machbar. Ohne sich umzuschauen, entspannt aber bestimmt, überzusetzen an den schützenden Hafen des Kunsttempels. Sakrales Bilderschiff und Auffangbecken für Zechpreller.

Die Bedienung erlaubte mir aber nichtmal dieses kleine Kribbeln – sie war einfach nirgends auszumachen. Wahrscheinlich waren die Kellner selber alle am Klo versammelt. Nur ganz hinten, am letzten Tisch, war eine Kollegin mit einer Bestellung beschäftigt. Auch die Barkraft hatte kein Auge auf mich. Also stellte ich mich nur einen Moment in den Türrahmen. Die Tischnachbarn sollten denken, ich ginge rein zum Zahlen. Denn Zivilcouraschler, die uns hinterherpfiffen, hatte es schon gegeben, tags davor etwa im Café Rotkreuzplatz. Weswegen Hank und ich uns eine Viertelstunde lang auf einem Friedhof dort ums Eck hatten versteckt halten müssen. Also, die Kehrtwende im Türrahmen und raus ins Freie, entschlossenen Schrittes die Straßenseite gewechselt und dann rasch über die Wiese zur Pinakothek gehuscht, hui, du holder Mai.

Hank stand an der Treppe mit einer enttäuschenden Nachricht: „Die Schmerzensmutter“ war immer noch in Restauration und nicht zu sehen. Na gut, es gab ja noch den „Paumgartner Altar“ und die „Beweinung Christi“, beides Opfer von Schwefelsäure. Wir erkundigten uns bei einem Wärter, wo diese Bilder hingen und ob die Belegschaft besonders wachsam sei, jetzt da Hans-Joachim Bohlmann doch spazieren gegangen und nicht zurückgekehrt sei. Nicht zurückgekehrt in den Ochsenzoll, Hamburgs sogenannter "Landesirrenanstalt". 

„Ja, schon. Spazierengegangen? Ausgebrochen ist der. Wieso?“ Der Mann schaute uns streng an, uns feindlich musternd wie ein Lurch. Wir waren uns offensichtlich nicht ganz grün, antworteten mit einem Schulter zuckenden „Nur so“ und schlenderten durch die Hallen. 
Der Ossentoll, wie die Hanseaten sagen, befindet sich zu einem großen Teil in den sanierten Gebäuden einer von 1937 bis 1938 erbauten Kaserne der Waffen-SS, die nach 1945 als Krankenhaus genutzt wurde. Von dort war Bohlmann also geflüchtet. So war es in der Abendzeitung gestanden. Und Bohlmann galten all unsere Sympathien. Bis auf die Sache mit den Pferden, aber das hätten wir den Wärter mit den Röntgenaugen ja unmöglich wissen lassen können. 
Bohlmann hatte mehr als fünfzig Attentate auf Kunstwerke verübt und dabei einen Schaden von ca 130 Millionen Euro verursacht. 1988 schließlich, nach zwanzigjähriger Tätigkeit, konnte er in München bei der Bearbeitung der Schmerzensmutter gestellt werden. Er hatte es also lange getrieben, und das, obwohl er es sogar immer darauf angelegt hatte, erwischt zu werden. Endlich Hilfe zu erfahren. Erleichtert über die gelungene Festnahme soll er den Polizisten in den Armen gelegen sein. Soll geflüstert haben: „Endlich ist es vorbei. Ich dachte schon, es hört nie mehr auf.“

Bohlmanns Biografie beschreibt einen der einsamsten Lebensläufe der Welt. Einen Menschen, der die Straftat sucht, um wahrgenommen zu werden. Um in Kontakt mit der Gesellschaft treten zu können. Wichtig war, dass die Straftat möglichst viel Aufmerksamkeit erregte. Das war der Grund für seine Entscheidung, sich mit der Kunst anzulegen. Der tiefere Grund lag in frühen Angstzuständen, die ein Neurochirurg damit hatte beheben wollen, dass er bestimmte Synapsen in Bohlmanns Kopf durchtrennte. Nach diesem Eingriff war aus dem jungen Mann ein Frührentner geworden. Alles hatte sich irreparabel verschlimmert. Derselbe Arzt hatte in einer damals veröffentlichten These auch die Behauptung gewagt, mittels seiner Methode das Schwulsein frühzeitig unterbinden zu können. Bohlmann war nicht schwul, aber unglücklich. Als auch noch seine Frau beim Fensterputzen in den Tod stürzte, war Bohlmann erstmal fertig mit der Welt. Er begann eine Karriere als Attentäter. Zunächst nicht auf Kunstwerke, sondern auf Pferde. Womöglich potenzierte der Anblick von Pferden seine Psychose – der Blick, die Augen der Pferde. Jedenfalls überfiel er nachts Pferde und ätzte dem Einen die Augen aus, ein Anderes übergoss er mit Säure, bis die Knochen frei lagen. Von dieser gräuslichen Tat hatten Hank und ich erst später erfahren, als sich unsere damalige Bohlmann-Sympathie schon gefestigt hatte.  

In den Hamburger Ochsenzoll war Bohlmann damals noch in derselben Woche wieder zurückgekehrt, freiwillig. Er wollte nur mal eben schauen wie das so ist, wenn man in Rente geht.


Sieben Jahre später erinnerte ich mich wieder an diese seltsame Episode. Ich googelte nach Bohlmann und erfuhr, dass er vor wenigen Wochen erst gestorben war, 72-jährig. Dort, im Ochsenzoll. 
Dabei kommt mir noch ein anderes Bild in den Sinn. Das Schaukelpferd auf dem Garagenspielplatz hinter dem 60er Jahre Wohnblock, in dem meine Großmutter im Bayerischen Wald gelebt hatte. Das Pferd war ein langer Holzblock mit einem Holzkopf, aufgebockt auf einer eisernen Mechanik, die uns Kindern erlaubte auf dem Pferd quietschend zu schaukeln. 
Es hatte fast die Größe von einem echten Pferd. Aber es war ein altes Ross, übersät mit eingeritzten Liebesschwüren und Schweinereien. Es war völlig zernarbt von diesen Taschenmesserattacken und machte einen sehr desolaten Eindruck. Ich hatte es immer sehr gern gehabt, auf dem Pferd zu ruckeln. Aber eigentlich war der Spielplatz ein sehr stiller und einsamer Ort und das Pferd eine nackte Tristesse. Immerhin, als Bild stiftet es mir jetzt Sinn. Ein Kunstpferd, auf das Attentate in Form von Liebesgrüßen verübt wurden. Schnitzereien und Einschnitte ins Kerbholz.

Läufer gegen Reiter im alten Café Stefanie in München

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