SCHAUSPIELER HINTER GITTER!
DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN
„Legal?
Was ist schon legal?“ – Worte, die irgendwann beiläufig fallen
und uns den Schlüssel für das Kraftfeld, in dem sich die Filme von Jaques Audiard bewegen, in die Hand legen. Gesetzesschranken sind irrelevant
für den Weg, den seine Protagonisten zurücklegen müssen. Wir
erleben Körper in der Revolte. Einzelgänger am Grundeis. Die gegen Kommunikation und Kontrollgesellschaft rebellieren. Und dabei große Fehler begehen. Der mittellose Free
Fighter Matthias gibt der Walfischtrainerin Marion, die bei einem
Unfall beide Beine verliert, zwar die Lust am Leben zurück,
übersieht aber, dass er seiner Schwester Anna durch einen dreckigen Job für
einen Personalüberwachungsdienst ein Bein stellt. Geld tritt hier als die Unfreiheit der Anderen in Erscheinung. Um seinen fünfjährigen Sohn Sam überhaupt einmal wahrzunehmen, muss erst das Klischee vom gebrochenen Eis bemüht werden, das Einzige in diesem Film. Fast jedes Wort aus dem Mund von Matthias kommt einer Ohrfeige gleich. Sein Egoismus ist Teil von seinem Befreiungskampf. Move your ass and your mind will follow. Wenn Matthias am Ende
seine Lektion gelernt und eine Aufgabe erfolgreich gelöst hat, dann haben Judikative oder Exekutive dabei
keine Rolle gespielt. Allein der existenzialistisch, körperlich erfahrene Wert der Beziehungen war hier von Bedeutung. Und die Gewaltenteilung untereinander. Man trägt sich
gegenseitig. Matthias trägt Marion ins Meer, Marion übernimmt im illegalen Milieu von Matthias das Management, und ein Double oder ein visueller Trickdienst übernimmt die Totalen der beinlosen Marion. Romantik in Aktion, Drive im Buch, Leben im
Schnitt. (fs)
Nachschlag:
1996 hatte Audiard ein Musikvideo für den Song "Comme elle vient" der erfolgreichen französischen Rockband Noir Désir inszeniert. Darin interpretieren Gehörlose den Songtext in Gebärdensprache. Die Anfangssequenz mit ihrem untertitelten Dialog rief in Frankreich einen kleinen Skandal hervor. In ihr führen drei Frauen eine politische Diskussion und kommen zu dem Ergebnis, dass es besser sei taub zu sein, als Politikern zuzuhören.
Der Sänger von Noir Désir, Betrand Cantat, wurde 2004 durch ein Gericht wegen Totschlags zu acht Jahren Haft verurteilt, nachdem er im Juli 2003 während eines gewaltsamen Streits seine Freundin Marie Trintingnant zu Tode geprügelt hatte. Marie Trintignant war als Tochter von Filmschaffenden aufgewachsen. Ihr Vater war der Filmschauspieler Jean-Louis Trintingnant, ihre Mutter die Autorin und Regisseurin Nadine Trintingnant.
"mister state trooper please don't stop me..." |
CÄSAR MUSS STERBEN
Auf die Frage, ob ein Film eine
künstliche Welt erschaffen, oder nichts weiter als eine bereits
vorhandene Realität abbilden sollte, antworten die Brüder Taviani
ganz einfach: Beides! Das gemischte Doppel einer organisch
existierenden Fiktion birgt allein schon der Jahrhunderte alte Text,
der einen Jahrtausende alten Stoff verhandelt. Shakespeare's „Julius
Cäsar“, gespielt von Schwerverbrechern, mit einem römischen
Gefängnis als Filmset. Von der Justiz zu etlichen Jahren Haft
verdonnert, spielen diese Männer das alte Drama um Macht, Mord und
Verrat mit einer leidenschaftlichen Intensität vor dem Hintergrund
ihrer persönlichen Geschichte. Gespielt wird auf den Fluren, in den
Zellen, zwischen den Zeilen. Cäsar, den ersten Kaiser Roms, von einem echten
Mafiosi verkörpert – das ist geniale Simulation von Realismus. Und gar nicht an
den Haaren herbeigezogen, vertreiben sich die Häftlinge mit der
Theatergruppe nun schon seit Längerem die Zeit. Man erwischt sich,
wie man für die hier in Schwarzweissbildern und unter Verschluss gehaltene finstere Seite
der Gesellschaft Sympathien entwickelt. Oder bei dem bösen Gedanken, dass Schauspieler öfter mal in Klausur gehen sollten. Ein eigendynamisches,
wichtiges Werk. (fs)
DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN (OT: De rouille et d'os)
Frankreich, Belgien 2012
Regie: Jaques Audiard
mit: Marion Cotillard, Matthias Schoenaerts, Armand Verdure u.a.
CÄSAR MUSS STERBEN (OT: Cesare deve morire)
Italien, 2012
Regie: Paolo und Vittorio Taviani
mit: Cosimo Rega, Salvatore Striano, Giovanni Arcuri u.a.
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