2020-12-30

Serie. Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (3)

 3rd Leg

In frostig rauer Sonnenfinsternis rottet eine eisig stille Menge auf dem offen wie ein weites Feld gebauten Stadtplatz von Baja. Tagelang. Kein Rathaus, Bürgersaal noch Magistrat, gegen welche sich anreiten ließe, sehen wir hier, auf dem Trinity Square dieser ungarischen Donaustadt. Auch kein Glockenspiel, das die mürrischen Blicke der Wanderer auffangen könnte. So blicken sie missmutig auf Augenhöhe über die Ebene des Platzes. Da heisst es, es könne jeden treffen. János, der Laufbursche, hört das Raunen, sieht mit eigenen Augen das Spektakel, mit dessen Ankunft in Gefolgschaft der Fremden hier, auf dem Stadtplatz, gleich einem Trojanischen Pferd, die Eklipse begann: Ein mysteriöser Walfischkadaver, der als hohle Attrappe der Stimme des Herzogs als Resonanzraum und Ablenkungsmanöver dient. János hört sie, die gesichtslose Stimme im Gaslicht des Walfischbauchs, hört sie hetzen. 


György, der Musik-Gelehrte, hält ebenfalls Monologe. An seinem Flügel sinniert er über die natürliche und die verfälschte Ordnung der Klänge. Andreas Werckmeister, letztendlicher Begründer der wohltemperierten Stimmung, habe nicht nur zur Bereinigung der problematischen zwölften Quinte zugunsten der Vereinheitlichung und Vereinfachung fünf schwarze Claves unterschlagen und damit die Gleichstufigkeit durchgesetzt, er habe damit die von Gott gegebene Beziehung unter den Tönen und die Koexistenzen unterschiedlich gestimmter Skalen manipuliert. Ob und in welchem Grade Györgys Forderung nach einer Abkehr von der Werckmeister'schen und einer Rückkehr zur pythagoräischen Stimmung in Beziehung zu den Ereignissen auf den Straßen stehen, bleibt ungewiss. 


Manch eine Randfigur im Stadtgeschehen vermag die Situation für sich zu nutzen, über das Bedrohungsszenario eines möglichen Kontrollverlusts aus ihrem Schattendasein zu treten. Persönlich kompromittierbar, wird auch György der Ausübung einer leitenden Funktion einer Bürgermiliz nicht ausweichen können. Bald schon wird es eine Eskalation der Gewalt geben. 

Einer unartikulierten Notwendigkeit folgend, werden Alte und Kranke nackt und nebst den sanitären Einrichtungen eines Spitals in blinder Wut und stummer Auswütung gemeinschaftlich attackiert. Die neue alte Ordnung wird János entmündigt und weggesperrt in einer Anstalt sehen. Sein alter Freund György berichtet ihm auf Besuch von seinem neuen Zuhause mit Klavier in normaler wohltemperierter Stimmung ...


Die Werckmeisterschen Harmonien (OT: Werckmeister harmóniák, Ungarn, Deutschland, Frankreich, Italien 2000, Regie: Béla Tarr. Mit Lars Rudolph, Peter Fitz, Hanna Schygulla u.a.)

Nach der literarischen Vorlage "Melancholie des Widerstands" von László Krasznahorkai. 



Fußnoten:


Andreas Werckmeister (1645-1706) ist neben Lorenz Christoph Mizler einer der letzten Vertreter einer bis zur Antike reichenden Verbindung von Philosophie, Musiktheorie und Theologie. Die Idee einer auf Musik basierenden Theologie, die im Rahmen einer Natürlichen Theologie die Offenbarung in der Heiligen Schrift ergänzt und insbesondere für die „Gottlosen“ einen Sinn ergäbe, hatte Andreas Werckmeister in der Spätschrift Musicalische Paradoxal-Discourse geäußert. Schließlich offenbare sich Gott neben der Offenbarung in der Heiligen Schrift auch in dem Lichte der Natur. Werckmeister hatte in der genannten Schrift seine Gedanken in dem Kapitel „Von der Zahlen geheimen Deutung“ formuliert: „Diese Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6. und 8. sind nun ein Corpus der völligen Harmonie […]. Sie können uns schattenweise das Wesen des allmächtigen Gottes abbilden / wie er von Ewigkeit in seiner ewigen Natur / ehe der Welt-Grund geleget war / gewesen ist.“  (nach Wikipedia)


Wieder & Weiterhören: Mariahilff (CD auf roof-music, 2009)

Mariahilff war die Band des Schauspielers Lars Rudolph und einer Splittergruppe aus Herman Hermann, Boris Joens, Ole Wulfers und Ronald Gonko, die allesamt auch bei Kapaikos spielten, dem legendären Berliner Mandolinenseptett. 


2020-12-20

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (2)

2nd Leg  

Zuerst kommen die Fassschläger, kommt das Hämmern ihrer Schlägel auf die Fässer, ihr Schallen durch der Altstadt menschenleeren Straßen. Dann kommt der Reifenschwinger, ohne einen Tropfen zu verschütten lässt er den Holzreifen schwingen, das Schnapsglas obenauf. Am Ende landet es hinter seinem Rücken, in der Mütze vom Kasperl, dem Spaßmacher. Kunterbunt wie eine Vogelscheuche thront der in der Mitte über der Szenerie auf einem Schaff, rings um ihn rum einen Ring formend mit Buchskränzen, so kreisen die Schäffler um ihn, ein Pestband einjeder quer über der Brust, zu weißen Kniestrümpfen, schwarzer Kniebund, Schurzleder, roter Jacke und grüner Kappe mit weißem Federbusch. Böttcher und Büttner, Küfner und Küper, Fassbinder, Simmer- und Tonnenmacher sind sie andernorts in ihrer Zunft, hier sind sie Schäffler. Schwarz ihre Schuhe, die tanzend voltigieren, die Menschen zurück auf die Straßen, die Gassen, die Plätze zu führen. Es ist die Pest, die sie an der Longe hält, seit 1515 hinter Schloss und Riegel gebannt, und nun, im 1517er, von den mutigen Fassmachern ausgekehrt, ein Leben herausfordernd, was gewagt werden will. Und so hört sie auf, und hört doch nie auf, die kreisrunde Szene im Spielwerkserker, um Elf und um Zwölf und um Fünf Uhr final, die kinematische Ordnung mit Glockengeklirr.


Eine Etage höher, chronologisch verkehrt, wird davor dargestellt, wie Adel sich bindet und öffentlich von kündet, auf dass die ganze Stadt weiss: Der Wilhelm, der Fünfte, und die Renata von Lothringen, sie haben sich gefunden, im Februar 1568 als Herzog und Herzogene hier auf dem Marienplatze sich herrlich verehelichtend. Sechzehn Figuren sehen wir in dieser Szene, wenn sich Herolde und Narren, Fanfarenbläser und Pagen, Standartenträger und Morisken drehen und nochmal drehen, das Turnierfeld zu säumen, in welches der Platz wird verwandelt, drauf Bayern und Lothringen sich schlagend, ein Reiter muss fallen, ein Opfer für den Gemahl, wenn Weißblau stößt Rotgelb mit der Lanz hart vom Gaul. Derweil reglos verweilt das Fürstenpaar und ihr Marschall. Doch hier tanzen Morisken ihren Schellentanz, konvertierte Muslime und maurische Sprungfedern mögen sie sein, wenn ihnen die Cascabeles gleich Klingglöckchen bis in die Fußspitzen rasseln, wie nur der getrockneten Kirschpaprika Samen beim Schütteln eben rasseln.


Achtzehn Tage Hochzeit, wir sehen sie in kaum drei Minuten, wie in einem Panoptikum aus der Vorfilmzeit, in wachsfigürlicher Erstarrung, in der Zeit vor dem Film, als der Film noch nicht erfunden und es kein Kino noch gab. Nicht zu sehen bekommen wir den Lebensabend von Wilhelm und Renata in klösterlicher Frömmigkeit: Auf Feierei und Wandlung vom Hennen- und Badehaus ins weltberühmte Hofbräuhaus folgten Abdankung und Entsagung. Nein, in ewig schleifender Wiederholung, ein Schlaglicht auf die Vermählung, in einer Erfindung, um Massen aufblicken zu lassen, und von oben aus ihnen beim Aufblicken zusehen zu können. Doch der Schäffler Fassschläger, sie sind nicht zu sehen, in dieser Neo-Gothik von Neunzehnhundertundzehn. Allein die klingenden Glocken lassen die Tänzer sich drehen, als Ablenkung davon, dass Hauberrisser hier keine Vision im Geiste erschien, als er hier zu München nachbauen ließ den Belfried von Brüssel und das Neue Rathaus von Wien.

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (1)

 1st Leg

Eines Hoftors Flügel öffnen sich dem Strom von Arbeiterinnen zur Mittagspause – und dem ersten Blick der Filmgeschichte: Der Projektor zeigt das Verlassen einer Fabrik, mal nach links, mal nach rechts abgehend wie auf einer Theaterbühne, in der Mehrzahl Frauen, die Männer zum Schluss. Helle Stoffe und Bolero-Hüte mit Schleifenbändern simulieren den Eindruck einer Dorfgemeinschaft in Sonntagskleidern, raus aus der Kirche, rein in den Salon. Doch die Kirche ist die fotochemische Fabrik zu Monplaisir, einem Quartier von Lyon, zur Herstellung von Lichtplatten im Auftrag von Antoine Lumière, Vater der Brüder Auguste und Louis, die mit ihrem Apparat, dem Kinematograph, nun diese Szene an einem sonnigen Tag im März 1895 festhalten – mit den perfekten Komparsen: Der eigenen Belegschaft. Als kostenlose Inklusiv-Statisterie, noch ohne Bewusstsein für das Gesehenwerden, müssen die Brüder keine weitere Anweisung geben, als einfach das Hoftor wie einen Vorhang öffnen- und die Menschen herauszulassen. Von denen keiner den direkten Blick des Objektivs erwidern wird. Die Brüder müssen die Menschenmenge nicht auffordern, ihres Weges zu ziehen ohne zu blicken, so wie Filmreporter Soldaten belehren müssen in "Apocalypse Now", dessen literarische Vorlage "Herz der Finsternis" entstand in den 1890er Jahren, zeitgleich zu dieser ersten aller Filmszenen. Die Finsternis im kolonialistischen Delirium, die leuchtende Arbeit im Lichtwerk von Lumière! Nein, das Herz wird nicht gezeigt, die Fabrik wird nicht von innen, nicht bei der Arbeit gezeigt. Gezeigt wird das, was der beiläufige Blick von außen schon kannte. Das Innenleben wird noch als tabu empfunden. Hinter dem Werkstor, hinter Mauern, bleibt die Arbeit verborgen, das Verlassen der Fabrik als Spektakel. Hundert Jahre später, 1995, bilanziert Harun Farocki: Am Anfang stehen die Arbeiter, doch die Arbeit an sich wird im Verlauf der hundertjährigen Filmgeschichte kein Protagonist werden: Die Arbeit an sich bleibt unattraktiv, sie stößt die Kamera mehr ab, als dass sie sie anzieht. Die Arbeiter verlassen die Fabrik, das Tor schließt sich.


Songtexte: Müllauto

Ich bin ein Müllauto

und ich fahre durch die Straßen dieser Stadt

Ich bin ein Müllauto
und ich hole immer Dienstags ab

Ich bin ein Müllauto
und ich werde niemals satt

Ich bin ein Müllauto
ich nehme auch die kleinen Straßen mit


Müllauto oho!

Bist du auch ein Auto?

Müllauto oho!

Was bist du für ein Auto?



Ich bin ein Müllauto
und ich kenne alle Straßen deiner Stadt

Ich bin ein Müllauto
und ich hole deine Sorgen ab

Ich bin ein Müllauto
und du gibst mir was von deinem Käse ab

Ich bin ein Müllauto
und ich mache niemals schlapp
 



verwendete Akkorde:
A - D- G - D - A
A- D - G- A - D
A- D- Hmoll

 

2020-11-24

Songtexte: Der Ruf von Giesing (Stadelheim-Schlager)


Die Liebe ruft!

Wenn ich mit der Tram Achtzehn den

Berg hinauf zur Schwanseestraße

nehm'


Die Liebe ruft!


An der grauen Mauer draußen

sieht mich auf dem Schirm die Wache

steh'n


Die Liebe ruft!


Mein Perso hoch in der Hand und

der Besucherschein lässt mich he-

rein


Die Liebe ruft!


Erst die Hose abgetastet

und Klamotten einmal ganz aus-

zieh'n


Die Liebe wartet!



Auf zwei Metern im Quadrat mit

einer Scheibe, die uns trennt

seh' ich deine Augen alles sagen

hinter Glas


Und wenn ich aus dem Stadelheim

hinaus raus auf die Straße trete

sehe ich den Ausruf schon

an einer Hauswand steh'n:


GANZ GIESING HASST DIE POLIZEI




Die Liebe ruft!


Auf der ander'n Isar-Seite

kann ich sie den ganzen Monat

hör'n


Die Liebe ruft!


Sie ging rauf nach Giesing, sie ver-

flucht den Kerl, der einmal zu oft sang


Die Liebe ruft!


Warten, Hoffen, Sehnen, nach

dem Sehen oder einem Postpaket


Die Liebe ruft!


In Träumen und in Versen ruft sie,

wie aus einem Buch von Pepe Zahl*


Und wenn die Besuchzeit rum ist

beginnt ein Monat Wartezeit

doch ein Spruch an der Wand sagt

wir sind nie ganz allein


Ja wenn ich aus dem Stadelheim

hinaus raus auf die Straße trete

sehe ich den Ausruf schon

an einer Hauswand steh'n:


GANZ GIESING HASST DIE POLIZEI



Auf zwei Metern im Quadrat mit

einer Scheibe, die uns trennt

seh' ich deine Augen alles sagen

hinter Glas



*P.P. Zahl ~ Peter-Paul Zahl – "Die Glücklichen" (Schelmenroman, 1979 – 'Bestiehl nie Jemanden, der von seiner Arbeitskraft lebt!')



verwendete Akkorde:


G / Hmoll / Amoll


D / Dmajor / Hmoll / C / G / Emoll / Dis / Fis / A






2020-08-15

Texte zu Musik: Ascolta

 
Ich lausche Ascolta und antworte mit Sprache, notiere Worte. Ich sollte das nicht tun, zumindest nicht in dieser Sprache, und erst recht nicht auf diesem Schreibgerät, einem Apple MacBook mit kaputtem Bildschirm. Um die getippten Worte überhaupt sehen zu können ist daran ein klobiger Monitor der Firma LG angeschlossen, aber das ist nicht der Grund, warum ich das nicht tun sollte. Mit einem einwandfrei funktionierenden Gerät, ganz frisch aus der Fabrik, wäre es dasselbe: Das Problem der Kohärenz zwischen dem, was die Arbeit an Worten mittels einem seriell gefertigten Betriebssystem leisten kann, und dem, was die hier zu hörenden Musiker tun. Weder nehmen sie präfabrizierte Instrumente zur Hand, noch folgt ihr Musizieren einer tradierten Spielweise – ihr Instrumentarium (Gerät) und ihre Notenschlüssel (Sprache) sind selbstgemacht. Mit Ausnahme der Geige von Hariolf Schlichtig natürlich, also öffnet sich vielleicht hier eine Tür zu meinem Tun: Die Sprache gibt die zweite Geige.

Nein. Die Sprache ist weit weg. Der Raum, der zwischen der Sprache und Fuchs' und Babels Stromstößen, Klopfzeichen und Pusteblumen liegt, ist auf keiner Karte markiert. Aber auch der Raum zwischen ihr und Schlichtigs Streichen: Mal blitzt dort ein Zitat auf, und will doch nicht genannt sein. Deswegen sucht Zoro mich heim, damit ich Worte finde. Das intuitive Spiel mit Worten zu illustrieren, sitzen Zoro Babel und ich uns im Raum meiner Dachwohnung gegenüber. Wortlos aber war der Anfang, damals, als ich ganz sprachlos und zuallererst die Beobachtung war: Das zufällige Erlebnis von Zoros Spiel in der Maria-Bar, einem Keller der ehemaligen Funkkaserne an der Domagkstraße München, mit Metallscheiben und Scharnieren, ein Stockkampf mit dem Material. Zweiundzwanzig Jahre liegen dazwischen. Und nun teilt Zoro seine Spielkarten aus und erinnert sich und mich an die Hammerschläge, die seinem Vater Paul Fuchs den Anfang einer selbst geschmiedeten Musik bedeuteten.

Meine Ohren glaubten den Specht im Wald zu hören, doch war es ein Morse-Telegraf. Das Blöken von Büffeln, doch war es das Brodeln des Vulkans. Und Vulcanus war es, den sie beim Fertigen der Blitz- und Donnerpfeile für Jupiter hörten, doch glaubten sie den Eisenerzbergbau der Etrusker zu vernehmen. Dann waren es Möwen, die kamen, um vor einem Mord in einem Stummfilm zu warnen, doch am Himmel waren Propellerflugzeuge aus einem Weltkrieg, sie nannten sich Mosquitos. Die Vorführung des Faradaysche Käfig im Deutschen Museum hörten sie, doch hätte es auch die Arbeit der Rangierer eines großen Güterbahnhofs sein können. Eine Windmühle, die klang wie ein Zementmischer, doch war es eine Holzhand. Und zwischenzeitlich klang das Spiel der Musiker nach Fußball, mit anderen Vorzeichen, mit einem unwuchtigen Ball, womöglich mit runden Kanten ... die es ja gar nicht geben kann. Oder etwa doch? Lauf, lauf! Ein Pass, ein Lauf, ein Sturm, ein Schuss, ein Abpfiff, eine Belehrung, eine Diskussion, aber immer: Weiter!

Im Ohr vollzieht sich eine permanente Geburt: Ein neues Wesen kommt auf die Welt, und doch ist es nicht neu, das neue Kind ist bereits "fertig". Entstanden lange Zeit zuvor, beim Geschlechtsakt. Aber nein, noch eher, viel eher ... selbst ein schnell gesagtes Wort hat eine Vorgeschichte, auch wenn das Bewusstsein dafür weg ist: Über die Lippen kommt es mit dem Anlauf ganzer Wort-Generationen, und seien es auch Contra-Parole, Ablenkung und Gewölk – kein Wort kommt aus dem Nichts, aber auch kein Klang ... ja wo kommt er her, was war davor? Es ist der Wille zur Schöpfung selbst, der sich hier in jedem Schlag und jedem Rütteln hörbar manifestiert, und doch der Logik eines Domino perpetuo obliegt. So folgt das Spiel von Babel, Fuchs und Schlichtig einer spontanen Gebung und Legung, wie auch einer jahrzehntelangen Vorbereitung, Fertigung und Erfahrung.

Da fällt der Blick auf das Material: Holzhand und Kabelungen, Fuchshorn und Fuchstuba, Stierballastsaite und Bronzetrommeln, Gummistiefel auf Sprungfedern und Spiralen aus Rohrstangen (Gärtner und Gärtnertraum), Holzblockwagen und Schiefergranitplatten, Trommeln und Donnerbleche, Oszillatoren und Motoren, Kontaktmikrofone und ein Speichermodul. Sie alle verdichten sich zu einem Spielfeld, verwandeln das Haus in den Colline Metallifere der südlichen Toskana in ein Klangstudio, das selbst ein Instrument, und ich denke an den "Klanggarten" der Hörspielredaktion im Rundfunk, mit Sandkasten, Kies und anderen Elementen zur Simulation von Geräuschen.
Zuletzt das Bild der drei Männer, die im Raum einer Galerie stehend ihr Spiel treiben. Es ist das letzte Bild, das mir in den Sinn kommt, und obwohl es den Aufzeichnungen entspricht, erscheint es mir beim Hören wie eine Fälschung. Ein frei erfundenes, ausgedachtes Bild. 


Linernotes zu Ascolta von Paul Fuchs, Hariolf Schlichtig und Zoro Babel 
CD bei Echokammer
EK 087


2020-05-06

Meine Platte #13 (Beitrag zur Kolumne im InMünchen-Magazin)

Die Gefederten und die Geteerten 


Ok, ich tu's wieder! Aber zunächst einmal will ich ein paar Dinge klarstellen. Es ist ja schon ein paar Jahre her, da ich etwas zu dieser wunderbaren Kolumne beigesteuert habe. Dabei war mir das Schreiben für „Meine Platte“ nicht nur wichtig, vielmehr bedeutete es mir die Erfüllung meiner journalistischen Ambition! Ich erinnere mich noch, wie angetan ich als kleiner Knirps vor dreißig Jahren von der Entdeckung dieser Doppelseite war, diese sofort als relevant einstufte: Wer sich in diesem Mitmachzirkel zu Wort meldete, der bedurfte dazu augenscheinlich keines Hochschulabschlusses oder so, nein, hier dazu zu gehören bedurfte einer Legitimation auf anderem Wege, einem, der von konkreter Tat und direkter Aktion ausgehend über die Bühnen dieser Stadt führen mochte. Und das war der einzige Weg, der mich interessierte. Fünfzehn Jahre später war ich drin in der IN, schrieb dies und jenes. Und anderes. Ein Dutzendmal "Meine Platte". Dann sechs Jahre lang nichts. Warum?
Die Antwort könnte lauten: Weil die Welt eine Platte, und diese so uferlos ist. Aloha, Meer aus Musik! Selber schon das ein oder andere Tonträger–Boot mit der eigenen Musik besetzt (huch, die eigene Musik!) den Wellen und Wogen übergeben, und so manche Produktion von geliebten colegas betreut, fällt ein neuerliches Bekenntnis zu Meine Platte nicht so leicht. Welche ist sie denn nun, ene mene meine? Ihr seid so viele, eure Geschichten verschwimmen ... 

Und wenn ich mich in Rillen legte, die fern von meinem Fahrwasser laufen, so mag ich kaum von meiner Musik oder meiner Platte sprechen. Nicht dass mir die Musik so fern wäre, im Gegenteil, nah ist mir so vieles, warum also sollte ich es zu mein Eigen machen? Gleichzeitig bleibt das kindlich naive Festhalten an Meine Platte irgendwie sympathisch, kauzig. Insgesamt weniger unbehaglich, als wenn ich Euch jetzt meine Freundin, meine Frau oder meinen Mann vorstellte. Um nicht falsch verstanden zu werden – Freunde und Freundinnen sind lebensnotwendig, und dann und wann die Leidenschaft für die Eine zu betonen, auch. Aber muss die Betonung einer Leidenschaft und Schwärmerei unbedingt in die Artikulierung von Besitz umschlagen, die Behauptung des Mein Eigentum? Das ist der wunde Punkt. Das große Missverständnis. Der Jammer unserer Konsensgesellschaft. Darunter leidet auch unsere Beziehung zur Musik. Die wird mit einem Bleifuß durch die Kulturverwurstung getreten, auf dass sie sich wandle in Eigentum, auf dass Eigentum generiere Eigentum, auf dass uns allen das Hören vergehe. 

Wer glaubt, Platten seien sein Eigentum, unterliegt einer naiven Illusion. Gewiss, da ist das Material, das eine Exemplar. Das sich gut anfühlt, in der Hand und im Auge. Die Musik darauf aber ... bleibt ein unbändiges Tier, das viele zu zähmen und manche zu streicheln wagen. Viele Hände sind es, die das Fell von diesem Tier berühren, wie könnte es da von einem Paar Händen besessen sein? Wer Musik hört, tritt in Kontakt, steht in Verbindung. Mit denen, die da auch am Hören sind. Und mit denen, die da hinter der Musik stehen. Wie soll etwas, das von vielen an verschiedenen Orten gleichzeitig oder zeitversetzt gehört wird, dem Einzelnen gehören? Ähnlich absurd wäre in Zusammenhang mit einem Telefongespräch die Vorstellung, dass einer Person dieses Telefonat gehören könnte. Das Gehörte gehört dir nicht, mir nicht. Und wenn du zehn Exemplare derselben Platte kaufst, die Musik fliegt dir um die Ohren, macht sich auf und davon. Sie kreist nicht nur um deine Ohren, sie liebt viele Ohren! So ist das Wesen der Musik.
Nun gut, wie eingangs erklärt, liebe ich diese Kolumne, und ich erzähle Euch nun von einem Schwung Platten, von denen ich sagen möchte, sie gehören mir mehr als alle anderen. Und ich spreche hier jetzt nicht von meiner eigenen Musik. Ich spreche von den zwei Handvoll Platten ohne Hülle. Nackt und ungeschützt stecken sie irgendwo zwischen den anderen Scheiben. Dies ist die Geschichte dazu ... 

Den Anlass gab eine Einladung der McCarthys nach Glasgow, zu einer Gruppenausstellung auf einem still gelegten Fabrikgelände. Wiederbelebt unter dem Namen Glue Factory sollte
dort die junge Kunst erblühen, und in Gesellschaft einiger untereinander verbandelter Münchner Künstler versprach das Ganze ein bombiges Happening zu werden. Nur wusste ich zunächst nicht so recht mir einen Reim auf meine Rolle dort zu machen, denn Künstler war und bin ich nicht, zumindest kein auf dem Kunstmarkt aktiver. Aber ich bekam Lust auf eine Aktion. Eine Handlung, die mir eine real durchlebte Tat bedeutete. Es war an der Zeit, ein Opfer zu bringen! Ich packte ein paar Platten von Ikonen, deren Portraits mich lange genug von ihren Plattencovers angeglotzt hatten, sie waren nun fällig. Portraitcovers fand ich schon immer fragwürdig, eine marktschreierisch plumpe Anmache, die auch bei mir so oft gewirkt hatte. Es mussten die Covers von Idolen sein, die mir besonders wichtig waren, und natürlich durften es keine kopierten Bilder sein, vielmehr galt es, die Originalhüllen zu zerstören, sonst wäre es kein Opfer gewesen. So besorgte ich schwarzen Leim und weiße Federn und flog damit nach Schottland. In der Glue Factory angekommen, klebte ich die Hüllen zu einem Quadrat angeordnet an die Wand hinter der Bühne, spielte auf dieser im Anschluss gemeinsam mit meinen Freunden Nick, Sarah und Seb ein paar Lieder – wir nannten uns für den Anlass The Featherall Stars – während Gabi Blum die Aufgabe bewältigte, die Popstars an der Wand mit "Teer" und Federn zu bekleistern. Der ganzen Sache gab ich den Titel "The System of Doctor Tarr and Professor Feather", einer Erzählung von Edgar Allan Poe entlehnt. Auf die einzelnen Platten einzugehen macht nun wenig Sinn, ging es doch um dies: Abschied von den Idolen. Das Loslassen, die Zerstörung. Den Augenblick und das Live–Leben feiern. Ich glaube, dass mir die übrig gebliebenen nackten Platten seitdem wirklich gehören, auch wenn mir nur manche davon noch wichtig sind. "Lust For Life" von Iggy Pop, mit den Zeilen "everything was made for you and me. Cause it just belongs to you and me. All of it is yours and mine. So let's ride and ride and ride and ride." Daran habe ich mich immer noch nicht satt gehört. Die Musik so betongrau gefährlich, ungebremst, mutig, unzerstörbar. Definitiv in den Top Ten meiner Lieblingsplatten. Unzerstörbar!
Die Feier nach diesem kleinen Spektakel in der Glue Factory war sehr lustig, fröhlich und wüst, und am nächsten Morgen lasen wir in der Zeitung, dass in der Nacht auf Island der Vulkan Eyjafjallajökull ausgebrochen war, und der ganze Flugverkehr über Nordeuropa ausgesetzt wurde, was mir zwei außerplanmäßig vergnügliche Wochen in Glasgow bescherte.
Von Zeit zu Zeit ist es wichtig, Opfer zu bringen. 

(zuerst veröffentlicht in IN München / März 2019) 



Texte zu Musik: MONKEY BUSINESS

 Anstelle einer handelsüblichen Albuminfo ...

Amerikanische Flottenaktivitäten rund um die japanische Bucht im Westend München

Es dämmert, und das nicht zu knapp! Nebelhörner dröhnen von Schiffen in der Ferne, angelockt von einer Kurbelwelle nah am Ohr, die dämmert auf und simmert ab als stoisch fortlaufender Generalbassmotor, als Bluesriff ohne Akkordprogression, fern also vom schematischen Wesen des Blues ... Und doch, mit Einsetzen eines zauberformelhaften Singsang-Portamento, in luftverspiegelter Nähe zu einem tribalistischen, malischen Desertblues. Die Schiffshörner und die Kurbelwelle senden Codes – es ist immerfort derselbe Code: Zwielicht Zwielicht, es dämmert und taut, es wummert und raut! Hier wird mit inszenatorischen Mitteln eine Kulisse gebaut.

Schon wandeln sich die Nebel- zu Alpenhörnern, deren Walzer auf einer Stufe verharrt, da bricht mit geisterhaftem Glissando das erste Licht in der Brandung, und aus fernen Kreuzern und Sternenzerstörern werden Buddelschiffe, als Modelle eingemacht. Jeder Flaschenhals gibt die Verlängerung eines Tankerrohrs, jede Saite ein haarfeines Tau, das die Takelage hochzurrt, all das in Miniatur. Es folgt Propellerbrummen, Bedrohung aus der Luft, mit Zisch und Krach reissen die Stimmbänder im Sturz, noch beben sie nach, schon ebben sie ab, die pazifischen Detonationen.

Die Stadt Sasebo wurde im Jahr 1902 als Marinestützpunkt gegründet. Japans kaiserliche Kolonialbehauptung war zur Jahrhundertwende immens, und fortan bis zur Niederlage gegen die Amerikaner Mitte des 20. Jahrhunderts ungebremst; Im Juni 1945 wurde Sasebo durch einen amerikanischen Angriff zu 48% zerstört, um gleich darauf zu Diensten der amerikanischen Navy wieder flott gemacht zu werden. Heute ist Sasebo Partnerstadt von Albuquerque im US-Bundesstaat New Mexico und Heimat von Japans besten Hamburgern. Albuquerque mit ihren unaufgeklärten Mordserien und Sasebo mit ihren hochgeschossigen Burgern – bleierne, düstere Twilightzones.

Das dämmernde Zwielicht lässt sich ganz einfach als Effekt herbeiführen – indem man die Augen zusammenkneift. Gangster und Yakuza machen das gern, in Filmen, um ihre Gegner und auch ihre Zuschauer stets in der Dämmerung zu sehen. Und dabei selber cool auszusehen! Die Songs von Sasebo haben die schleichende Körperbewegung von so einem Gangster mit zusammengekniffenen Augen und tragen Titel wie Cobra, Gagac, Gogo und Coja, die allesamt wie Synonyme für das Wort Cool klingen. Carl Tokujiro Mirwald ist dieser böse Oberboss, der Große Räuber Tokujiro, der absolut zu Fürchten ist. Und gleichzeitig ist es natürlich urkomisch, wenn der Chef in dem Stück Unsari verkündet: »So ein Leben habe ich satt, von morgens bis abends nur gehorchen zu müssen.«

Von einer komischen Theatralik beseelt ist ganz generell das Gebaren von Tokujiros Gegenspieler Toshio Kusaba, etwa wenn der sich in dem Stück Gagac in Tokujiros Geliebte verwandelt, und dabei den Angehimmelten bittet, "sie" zu töten, falls dieser "ihre" Liebe nicht erwidert. Und in Nechan kommt es zwischen Beiden zu einem traditionellen Geisha-Spiel, wo der Verlierer von "Stein, Schere, Papier" oder "fli, fla, flu" sich ausziehen muss. Die draußen lauernde Bande klingt derweil so, wie die Mützenjungs in den Illustrationen von Walter Trier zu Emil und die Detektive aussehen, hinter Litfaßsäulen hervorspähend, nur dass sie keine Detektive, sondern selber Ganoven sind. Einmal von dem Boss mit seiner Trillerpfeife aus ihren Ecken zusammengepfiffen, ziehen alle in einem umwerfend lausbübischen Chor die Straße runter, mit dem alleinigen Ziel, der "schönen Schwester" den Hof zu machen.

Die denkt in Gogo, gesungen von Tinka Kuhlmann, darüber nach, wie sich der Vogel zum Singen bringen ließe. Gogo ist eines der höfischen Lieder aus der Feder von Gitarrist Yutaka Minegishi, die allesamt wie ein Gegengewicht zu den verwegenen Stücken von Gitarrist Ivica Vukelic wirken, die wiederum eher aus amerikanischen Traditionen entsprungen sind, aus schwarzen Underclass– Traditionen wohlgemerkt, den echten Volksmusiken eben. Alles auf dieser Platte hat zwei Gesichter. Und jedes dieser zwei Gesichter hat wiederum zwei Gesichter ... Auf den Namen Monkey Business war die Yacht getauft, die dem US-amerikanischen Demokrat Gary Hart zum Verhängnis wurde, als er diese zur Ausübung und Stillung seines außerehelichen Paarungsdrangs während seiner Präsidentschaftskandidatur im Jahre 1987 betrat. Und Monkey Business ist auch der Originaltitel der Slapstick-Klamotte Die Marx Brothers auf hoher See, in deren Verlauf die Brüder als blinde Passagiere an Bord eines Ozeandampfers zwischen die Fronten zweier rivalisierender Gangsterbosse geraten. Am Ende gelingt sie ihnen natürlich, die Einreise nach Amerika, dank ihrer gewitzten Tricksereien.

Die Gruppe Sasebo treibt schon seit etlichen Jahren ihr hinterlistiges Spiel mit kulturellen Klischees. Nach zwei Vinylveröffentlichungen im Mittelformat beim Label Echokammer bringt nun das Label Gutfeeling ihr erstes Großformat auf die Welt. Aufgenommen, abgemischt und überwacht wurde dieser spitzbübische Musikzirkus von Zoro Babel und Manu Rzytki. Kommen Sie nur rein, und hören Sie selbst, hören Sie!

SASEBO
MONKEY BUSINESS (Gutfeeling / VÖ 01.06.2020)

2020-04-15

Texte zu Musik: LAUT LOS

 g.rag/ zelig implosion deluxxe
LAUT LOS (Gutfeeling / VÖ 01.05.2020)

Wüsste es der Pressetexter selbst nicht besser, würde er verlauten, die neue Scheibe von g.rag / zelig implosion deluxxe entstand in Schichtarbeit auf dem Werksgelände einer Fabrikanlage. In Nacht- und Nebelschicht, Made in West Germany, Bavaro–Amerikanischer Sektor. Im Krautland. Im Präteritum.

Wie aus der Fernmeldeanlage einer non-stop durchgetaktet pulsierenden Produktionsstätte dringt eine megaphonisiert verhüllte Stimme durch die verzahnt laufende Betriebsamkeit und verkündet Verse, die nach verwischten Spuren aus Moderne Zeiten oder kryptischen Prophezeiungen aus dem Grammophonzeitalter klingen:

»automation, kommunikation, television - kenn ich schon
animation, korruption, faszination - kommt davon «

Kurz darauf schon gleicht die Stimme den Fetzen einer letzten Warnung aus einer geborgenen Blackbox, während sich die Belegschaft weiter durch den Rhythmus der Stechuhr schiebt – nicht gewahr werdend, dass der Kollaps längst bevorsteht:

»life ain't easy / if you're living in the past / if your talk's input–output / we call it boring boring – that's da look of da world«

Aber der Pressetexter weiß nichts besser! Weil es nichts besser zu wissen gibt. Vorbei sind die Zeiten, da sich eine Publikation selbsterklärend bis zum Offenbahrungseid mitteilte, um dem freilaufenden Denken der Zuhörer vorauszugreifen: Mit einem Transfix ändern sich Vorzeichen, und alte Information verschwindet! Egal ob feindliche oder arrangierte Übernahme – es kommt die große Baulücke und es gibt keine sichere Bahnhofshalle mehr ...

Das ist das Grundrauschen und subtiles Narrativ dieses Albums. Und trotzdem, oder gerade deswegen, haken g.rag/ zelig implosion deluxxe nach, track by track, und eröffnen genau wie auf dem letzten Album Schöner Warten erneut mit einer Begrüßungsfahrt. Und – bei aller Implosion – Wind und Schwung hat diese Fahrt! Der Moog von Prof. Deluxxe gleitet gespentisch leicht auf Zeligs schaukelnden Schienen dahin, die Leinen sind los, g.rag stellt die Weichen, und das Trio ist ein organisches Ganzes.

Und natürlich klingt Laut Los nach der Ästhetik einer versunkenen Moderne, die hierzulande längst abgewrackt und schrottgepresst ist. Schließlich gibt es noch Regionen auf dieser Welt, auf deren Straßen die alten Automobilfabrikate Made in West Germany state of the standard sind. Geht's Noch? Ja, wenn man will, dann geht's eben doch! Und Geht's Noch ist klares Statement gegen jegliche Abschottung, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit ...

Schlussendlich weiss jeder Akkord und jeder Schlag auf Laut Los, dass die Welt auf Prekariat gebaut ist, jeder Akkord und jeder Schlag auf Laut Los sucht die Anbindung an sog. Parallel- und Subwelten. Selbst wenn die Musik zu dieser Platte aus keinem halligen Fabrikszenario kommt, vielmehr in einer räumlich eng begrenzten DIY–Werkstatt eingespielt wurde – gefertigt wurde die Platte ja dennoch und tatsächlich in einer Fabrikanlage, deren Maschinen laufen day in day out.

Am Ende implodiert die Platte: Das Stück Laut Los selbst ist natürlich das "leiseste", verträumt vernebelt verschwindend ...

Legende, für die Presse:
Laut Los ist die Erweitung von Schöner Warten (2018) und gleichzeitig auch Antithese zu Neue Stadt (2018), dem aktuellen Album von G.Rag & Die Landlergschwister. Wie schon auf dem Debut-Album Tanz No Wave (2016) mit einem Stück von Wire und einem von Palais Schaumburg auf Schöner Warten, enthält Laut Los neben den Eigenkompositionen eine Coverversion aus Postpunk-NoWave-Zeiten: Mit Viel zu Viel von F.S.K. hören wir g.rag nun den jungen Thomas Meinecke interpretieren, und es ist, als würde uns ein Implosionsmotor nach tausenden von Kilometern Laufzeit mit Kolbenfraß wütend anschnauben. g.rag hat sich diese Stücke nicht nur völlig zu eigen gemacht – er lebt in ihnen, verkörpert sie.



2020-01-21

Kassette: EN EL PUEBLO – Neun Lieder



El Pueblo

Solang der Eimer in den Brunnen fällt

solange seh ich keinen Grund



Solang die Leiter in den Himmel führt

solange seh ich keinen Grund



Solang der Wagen in der Scheune bleibt

solange seh ich keinen Grund



was zu verkünden

Neinoneinonei

Neinoneinonei



Dieser sehr finstere Ort

und jener noch düsterer dort

hat keinen Regen, hat keinen Wind



Dieser sehr finstere Ort

und jener noch düsterer dort

hat Bauernregeln für Städter, mein Kind



Neinoneeei

Neinoneeei



Solang der Ball im Tor das Feld bestellt

solange seh ich keinen Grund



Solang der Hund in Nachbars Garten bellt

solange seh ich keinen Grund



Solang der Reim in deinem Mundwerk hält

solange seh ich keinen Grund



was muss sich entzünden

Neinoneinei

Neinoneinei



Dieser sehr finstere Ort

und jener noch düsterer dort

hat Grundschulregeln für dein und mein Mund



Dieser sehr finstere Ort

und jener noch düsterer dort

sehnt sich nach Regen, sehnt sich nach Wind



Lass los

Lassen

Zieh los

Ziehen

 
Straßenverkäufer  

Straßenverkäufer bin ich, ich bin Proletarier 
Fliegender Händler bin ich

ich bin ambulant 
ich bin ambulant

Ich verkaufe Schuhe, zum Laufen auf den Straßen 
Ich verkaufe Jacken, und decke mein zuhause
ich verkaufe Essen, fütter meine Wohnung
ich verkaufe, laufe

Straßenverkäufer bin ich, ich bin Proletarier 
Fliegender Händler bin ich

ich komme und ich gehe 
ich komme und ich gehe 

ich bin ambulant 
ich bin ambulant

Straßenverkäufer bin ich, ich bin Proletarier 
Fliegender Händler bin ich

ich bin ambulant
ich bin ambulant

Meine Flagge sind die Farben
von meiner Kleidung, meinen Waren
ich liebe alle Farben
und liebe alle Straßen
denn dort da sind die Läufer
und das sind meine Käufer
Straßenkäufer Straßenkäufer
Straßenläufer Straßenkäufer

Straßenverkäufer bin ich, ich bin Proletarier 
Fliegender Händler bin ich

ich bin ambulant
ich bin ambulant

ich bin ambulant
ich bin ambulant

ich verkaufe Schuhe ...

Wie traurig kann die Straße sein  
wie traurig so ein Traum 

So traurig kann die Straße sein 
so traurig so ein Traum 

So traurig wie ein Traum 
 


Mamá
Ich hör dich, Mamá
in der Stille, Tag und Nacht
Du wandelst herum
und wenn du gehst, bleibst du da
Ich seh dich, Mamá
auf dem Feldweg, im Pueblo
Ein Berg Erntebündel
sehe ich auf deinem Kopf wandern
Mamá Mamá Mamá
Mamá Mamá Mamá
die Mamá kommt wieder
die Mamá kommt wieder
Hey Hey
und früh geht sie wieder
Heyhey
Mamá Papá
Heyhey
Hundert Bündel Reissig
trägst du
Tausend Bündel Heu Heu
Mamá
und jeden Tag wieder
Hey Hey
trägst du den Berg wieder
und früh gehst du wieder
so wie Mamá trägt Niemand
Mamá Mamá Mamá
Mamá Mamá Mamá
 
 
Der Beifahrer 

Ay Ay

Ay Ay



Ich bin der Beifahrer

und ich reise ich reise



ich reise durch Hinterhöfe

ich seh die Sterne vom Himmel starren



vom weiten und fernen Himmel

heut scheint alles gut nah und fern



ich seh durch mein Fenster so weit

dass ich die Sterne in der Ferne und

aus dem weiten Himmel herauskommen seh



in die Hinterhöfe hineinstarren seh



all das sieht gut aus heut Nacht



Steig in den Wagen

lass uns reisen



so tun, als ob

wir durch die Stadt reisen heut Nacht



in Hinterhöfe starren heut Nacht



O der Beifahrer

o wie er reist

er ist nur Beifahrer

er reist doch, er reist!



er sieht die Dinge, von denen er weiss

dass sie seine sind



den weiten und fernen Himmel

die Stadt, wenn sie schläft in der Nacht



so lass uns reisen und reisen und reisen und reisen



und singen

La la la la la la la la

La la la la la la la la

La la la la la la la la



und singen

La la la la la la la la


Götter

 
Götter des Feuers
Götter der Luft

Götter der Erde

und des Wassers


Teilt euch mit uns!

Götter aus Plastik
Götter aus Teer
Götter aus Gummi
Götter aus Schaum

Wie schaut ihr denn aus!

Götter der Liebe
Götter der Lust
Götter der Armut
Götter der Angst

Kommt her, wir haben Sex!

Götter in Aufruhr
in infrarot
Götter in Rush–Hour
Götter in Not

Schlaft ihr denn nie?

Wir müssen mal reden!

   
ALLES IST FALSCH. RICHTIG FALSCH.


Wir fangen einfach so an.
Weißt du. Weißt du. Weißt du.
You know. Weißt du. You know. Weißt du.
You know.
You know. You know. You know.
Weißt du weißt du weißt du.
Du weißt.
You know. Du weißt. You know. Weißt du.
You know. Weißt du. Weißt du.

Kennst du die Losung. Kennst du die Losung
Kennst du die Losung. Kennst du die Losung
Weißt du die Losung. Meinst du.
Lass mal hören. Lass mal hören.

Alles ist falsch. Alles ist falsch. Alles ist falsch.
Alles ist falsch. Wenn ich es richtig wissen will.
Alles ist falsch. Wenn du es richtig wissen willst.
Alles ist falsch. Wenn du es richtig wissen willst.
Alles ist falsch. Wenn du es richtig wissen willst.
Alles ist falsch. Wenn du es richtig wissen willst.
Alles ist falsch. Wenn du es richtig wissen willst.
Alles ist falsch. Wenn du es richtig wissen willst.
Alles ist falsch.
Everything's WROANG.

Wenn ich es richtig machen will. Alles ist falsch.
Wenn du es richtig machen willst. Alles ist falsch.
Wenn du es richtig machen willst. Alles ist falsch.
Wenn du es richtig machen willst. Alles ist falsch.
Wenn du es richtig machen willst. Alles ist falsch.
Wenn du es richtig machen willst. Alles ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch.
Falsch ist falsch und falsch bleibt falsch.

Dein Einsatz ist richtig. Aber die Vorzeichen sind falsch.
Dein Einsatz ist richtig. Aber die Vorzeichen sind falsch.
Ich kann deinen Einsatz nicht hören.
Falsch bleibt falsch. Wenn die Vorzeichen falsch sind.

Wenn ich richtig sprechen will. Dann sprech ich falsch.
Wenn du richtig sprechen willst. Dann sprichst du falsch.
Wenn du richtig sprechen willst. Dann sprichst du falsch.
Wenn du richtig sprechen willst. Dann sprichst du falsch.
Wenn du richtig sprechen willst. Dann sprichst du falsch.
Wenn du richtig sprechen willst. Dann sprichst du falsch.
Sprichst du falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist.
Alles ist falsch. Alles ist falsch.

Dein Thema ist richtig. Aber dein Einsatz ist falsch.

Ich will nicht wissen, was der Direktor macht, denn er macht alles falsch.
Ich will nicht wissen, was der Vorstand beschließt. Die Beschlüsse sind falsch.
Ich will nicht wissen, was die Rating Agentur sagt. Ihre Wahrheit ist falsch.
Ich will nicht wissen, worüber man spricht. Denn alles ist falsch.

Alles ist falsch.
Everything's WRONG.

Die Vorzeichen sind falsch. Vorzeichen sind falsch.

Dein Thema ist richtig. Aber der Einsatz ist falsch.

Kannst du es richtig ändern. Wie kannst du es richtig ändern.
Kannst du es richtig ändern. Wie kann man es falsch ändern.
Wie kann man es richtig ändern. Wenn alles falsch ist.
Wie kann man es richtig ändern. Wenn alles falsch ist.

Wie kann man es richtig ändern.
Kannst du es? Kannst du es richtig? Kannst du es richtig ändern?

Wenn du richtig liegen willst. Dann liegst du falsch.
Wenn du richtig liegen willst. Dann liegst du falsch.
Wenn du richtig liegen willst. Dann liegst du falsch.
Wenn du richtig liegen willst. Dann liegst du falsch.
Wenn ich richtig liegen will, dann lieg ich falsch.

Falsch ist falsch ist falsch ist falsch ist falsch. Falsch ist falsch.

Wenn du mitspielen willst. Dann spielst du falsch.
Wenn du da mitspielen willst. Dann spielst du falsch.
Wenn du da mitspielen willst. Dann spielst du falsch.
Wenn du da mitspielen willst. Wenn du da mitspielen willst.
Wenn ich da mitspielen will –
Das Spiel ist aus.


Die Große Liebe

ich hab geträumt
ich war in dir
du warst in mir
und du warst ich
und ich war du
da war ein wir

da waren wir
die große Liebe

glaubst du an sie?
und an die Kleine?
wenn sie nicht weggeht
sind wir noch da?

ich hab gesehn
hinter dem Vorhang
da ist es heimlich
heimlich
heimlich
da ist er und er und sie und er und er
und sie

zähl die Türen
von deiner Liebe
sie ist dein Knast

glaubst du an sie?
die große Liebe?

zähl die Schlösser
zähl die Schlüssel
und zähl und zähl und zähl und zähl

ich hab geträumt
du warst in mir
ich war in dir
und du warst ich
und ich war du
da war ein wir
da waren wir

ich hab geträumt
ich hab geträumt
ich hab geträumt
  ich hab geträumt


Die Kinder vom Park

Die Kinder im Park
sie sind so glücklich
sie spazieren umher
und träumen von Bonbons
gegen Geld und gegen Küsse

Die Mädchen und die Jungs
sind so glücklich
spazieren umher
gehen zusammen
wer sagt, sie sind unschuldig?

Die Kinder im Park
sie sind so glücklich
sie spazieren umher
und halten Händchen

sie träumen von Bonbons
gegen Geld und gegen Küsse

sie sind nicht unschuldig!
sie rauchen Zigaretten
und sie spielen mit Bomben


Sterne 

Und die Nacht war so pechschwarz
als ich weit weit draußen war

kalt und bang war mir, mein Herz
der Acker braun, und alles starr

und es war noch nichtmal Schmerz
nur die Leere, die war klar

und es zog so fest an mir
ein Bauchgefühl, das ich nicht mag

was mich wirklich schaudern ließ
es kam tief aus mir heraus

ein böses böses Bauchgefühl
was will diese Nacht von mir

und es kroch hoch bis zur Stirn
und den Haarspitzen sogar

und auf einmal war mir klar
dass das meine Freiheit war

am schlimmsten Ort, da war ich frei!

Denn in der Nacht
erkennst du sie
am schwärzesten
Himmel Himmel
die hellsten Sterne
siehst du dort
in dunkler Nacht
die hellsten Sterne!


(Der Beifahrer basiert auf The Passenger von Iggy Pop. 
Die Kinder vom Park ist eine Übersetzung von Los Niños del Parque von Beate Bartel, Chrislo Haas und Krishna Goineau)