2020-12-30

Serie. Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (3)

 3rd Leg

In frostig rauer Sonnenfinsternis rottet eine eisig stille Menge auf dem offen wie ein weites Feld gebauten Stadtplatz von Baja. Tagelang. Kein Rathaus, Bürgersaal noch Magistrat, gegen welche sich anreiten ließe, sehen wir hier, auf dem Trinity Square dieser ungarischen Donaustadt. Auch kein Glockenspiel, das die mürrischen Blicke der Wanderer auffangen könnte. So blicken sie missmutig auf Augenhöhe über die Ebene des Platzes. Da heisst es, es könne jeden treffen. János, der Laufbursche, hört das Raunen, sieht mit eigenen Augen das Spektakel, mit dessen Ankunft in Gefolgschaft der Fremden hier, auf dem Stadtplatz, gleich einem Trojanischen Pferd, die Eklipse begann: Ein mysteriöser Walfischkadaver, der als hohle Attrappe der Stimme des Herzogs als Resonanzraum und Ablenkungsmanöver dient. János hört sie, die gesichtslose Stimme im Gaslicht des Walfischbauchs, hört sie hetzen. 


György, der Musik-Gelehrte, hält ebenfalls Monologe. An seinem Flügel sinniert er über die natürliche und die verfälschte Ordnung der Klänge. Andreas Werckmeister, letztendlicher Begründer der wohltemperierten Stimmung, habe nicht nur zur Bereinigung der problematischen zwölften Quinte zugunsten der Vereinheitlichung und Vereinfachung fünf schwarze Claves unterschlagen und damit die Gleichstufigkeit durchgesetzt, er habe damit die von Gott gegebene Beziehung unter den Tönen und die Koexistenzen unterschiedlich gestimmter Skalen manipuliert. Ob und in welchem Grade Györgys Forderung nach einer Abkehr von der Werckmeister'schen und einer Rückkehr zur pythagoräischen Stimmung in Beziehung zu den Ereignissen auf den Straßen stehen, bleibt ungewiss. 


Manch eine Randfigur im Stadtgeschehen vermag die Situation für sich zu nutzen, über das Bedrohungsszenario eines möglichen Kontrollverlusts aus ihrem Schattendasein zu treten. Persönlich kompromittierbar, wird auch György der Ausübung einer leitenden Funktion einer Bürgermiliz nicht ausweichen können. Bald schon wird es eine Eskalation der Gewalt geben. 

Einer unartikulierten Notwendigkeit folgend, werden Alte und Kranke nackt und nebst den sanitären Einrichtungen eines Spitals in blinder Wut und stummer Auswütung gemeinschaftlich attackiert. Die neue alte Ordnung wird János entmündigt und weggesperrt in einer Anstalt sehen. Sein alter Freund György berichtet ihm auf Besuch von seinem neuen Zuhause mit Klavier in normaler wohltemperierter Stimmung ...


Die Werckmeisterschen Harmonien (OT: Werckmeister harmóniák, Ungarn, Deutschland, Frankreich, Italien 2000, Regie: Béla Tarr. Mit Lars Rudolph, Peter Fitz, Hanna Schygulla u.a.)

Nach der literarischen Vorlage "Melancholie des Widerstands" von László Krasznahorkai. 



Fußnoten:


Andreas Werckmeister (1645-1706) ist neben Lorenz Christoph Mizler einer der letzten Vertreter einer bis zur Antike reichenden Verbindung von Philosophie, Musiktheorie und Theologie. Die Idee einer auf Musik basierenden Theologie, die im Rahmen einer Natürlichen Theologie die Offenbarung in der Heiligen Schrift ergänzt und insbesondere für die „Gottlosen“ einen Sinn ergäbe, hatte Andreas Werckmeister in der Spätschrift Musicalische Paradoxal-Discourse geäußert. Schließlich offenbare sich Gott neben der Offenbarung in der Heiligen Schrift auch in dem Lichte der Natur. Werckmeister hatte in der genannten Schrift seine Gedanken in dem Kapitel „Von der Zahlen geheimen Deutung“ formuliert: „Diese Zahlen 1. 2. 3. 4. 5. 6. und 8. sind nun ein Corpus der völligen Harmonie […]. Sie können uns schattenweise das Wesen des allmächtigen Gottes abbilden / wie er von Ewigkeit in seiner ewigen Natur / ehe der Welt-Grund geleget war / gewesen ist.“  (nach Wikipedia)


Wieder & Weiterhören: Mariahilff (CD auf roof-music, 2009)

Mariahilff war die Band des Schauspielers Lars Rudolph und einer Splittergruppe aus Herman Hermann, Boris Joens, Ole Wulfers und Ronald Gonko, die allesamt auch bei Kapaikos spielten, dem legendären Berliner Mandolinenseptett. 


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