2019-03-30

Das genaue Chaos – Vermessen von den Göttern der Verwesung

Ich sitze in einem Hotelzimmer und tippe Buchstaben in mein Schreibgerät, Das kleine Chaos im Kopf. Das Schreibgerät ist ein langsam fahrender Acer Extensa 5620, vor meiner Zeit benutzt von den Fingern von Michael Fengler. So hatte Èla gesagt, als ich es am Tag vor meiner Abreise nach Graz in ihrer Küche dankbar entgegengenommen hatte. Èla macht was in Grünwald beim Film, und sie sagte diese Worte: Benutzt von den Fingern von Michael Fengler. Fengler, der Fellini, Fassbinder und Lemke produziert, und in ihren Filmen manches Wort geschrieben und manchen Lauf gedreht hatte. Sichtbar wurde er als Mann vor der Kamera in Fassbinders erstem Kurzen, im Zweiten stand er dann hinter der Kamera, es waren die Jahre 1966 und '67: Der Stadtstreicher und Das kleine Chaos. Ein kleiner Durchdreher von drei erfolglosen Zeitungshausierern. Franz, vor dem Filmplakat von Raoul Walshs Maschinenpistolen (WHITE HEAT), »ich hab'n Buch geklaut, antiquarisch«, liest aus Henry de Montherlant, Die jungen Mädchen: »Rasch! Schreiben Sie mir nochmals Worte, die ich küssen könnte. Ich habe Ihren Brief an meine Brust gedrückt, bis es mir weh tat, und je weher es mir tat, desto wohliger wurde mir eben deswegen zumute.« Franz, die Finger zur Darstellung einer Knarre geformt: »Ich möchte endlich mal einen Krimi sehen, der gut ausgeht!« Franz, das Geld vom Wohnungsüberfall zählend, »Was machst'n DU mit deinem Anteil?« Sie kauft sich ein Kleid, er kauft sich irgendwas Vernuscheltes. Und du, Franz? Franz, sein Gesicht im schnellen Zoom: »Ich? Ich geh' ins Kino!«



Erstmal das Radio an. Radio Helsinki, 92,6 MHz. Das Radio musste extra mit, um es morgens oben im Zimmer laufen zu lassen. Kein Sterne-Hotel der Welt bietet »Zimmer mit Radio« an. Das Radio heißt Caliber HPG 3IIR und ist mini klein, und es gehört eigentlich nicht mir, aber das ist eine andere Geschichte. Wir sind nicht in Finnland, aber in Österreich, und Graz hat diesen wunderbar piratesquen Sender, auf dem zwischen neun und zehn Uhr morgens in einem Dreiergespräch die Diagonale analysiert wird: Marie Creutzers Eröffnungsfilm Der Boden unter den Füßen war gefühlt zu lang, und gedacht viel zu kurz. In der Karrierehölle der Unternehmensberaterin Lola ist nicht viel Platz, auch nicht für ihre suizidale Schwester Conny, die fliegt raus, so wie alles, was zuviel an Personal und an Kollegen ist. Mysteriöse Anrufe und Kurznachrichten deuten einen Horrorthriller an, überschreiten aber keine Linie und treten auf der Stelle. Ich gebe den Stimmen recht und dreh' wieder ab. Gestern Abend, in diesem Raumschiff namens Helmut-List-Halle, hatte meine innere Stimme während der Projektion notiert: Das Telefon taugt nicht als halluzinatorischer Spielraum, und der Psychohorror kommt mit dem Arbeitsfetisch nicht aus dem Themenpark raus. Die Festivalleiter aber sind gute Politiker. »Sehr verehrte Damen und Herren, Nationalismus ist Gift für die Gesellschaft!« Peter Schernhubers lang nachhallendem Eröffnungssatz und Sebastian Höglingers Beschwörung der Werte Humanität, Egalität, Geschwisterlichkeit und Solidarität wurde gleich flammenden Schwertern auch von meinen Händen applaudiert. Gemeinsam erhob man noch die Genauigkeit zur Parole, und Birgit Minichmayr weinte vor zweitausend Anwesenden, weil sie von allen geliebt wird. Damit hatte die zeitbewusst staatsmenschliche Eröffnung ihren Höhepunkt erreicht. Der Taxifahrer drehte auf dem Weg ins Wiesler eine Sendung über psychische Erkrankungen übertrieben laut auf und tauchte die Lastenstraße, den Bahnhofgürtel, den Lendkai und den Grieskai in eine urkomisch-melancholische Groteske. Ein Schwall posttraumatischer Belastungsstörungen schwappte beim Ausstieg aus dem Wagen, und ich hoffte auf baldige Erfüllung der von Schernhuber verkündeten Verheißung »Filme führen in Länder, die es gar nicht gibt.« Eine phantastische Vision, die von einer national begrenzten Jahresschau, wie es die des österreichischen Filmschaffens nun einmal ist, wahrlich schwer einlösbar, was umso mutiger ist und der Festivalkuratoren Willen und Lust zur Transgression und Transformation deutlich macht.



Auf dem Nachttisch liegt ein Flyer, den mir Luc auf der Eröffnung zugesteckt hatte, um von Deutschlands erstem queeren Kurzfilmfestival zu künden. Es heißt StyxX und findet statt vom 28. bis 31. März in München. »Na, das passt ja«, denke ich und mache mich auf den Weg zur Projektion von Styx, einer deutsch-österreichischen Produktion, die bislang in den Kinos an mir vorbeigelaufen war. Neun Jahre und auf hoher See soll daran gedreht worden sein. Das will ich sehen. Aber zuvor gehe ich noch in Welcome To Sodom, ich Ahnungsloser! Ein Blick in die Festivalfibel: Der Drehbuchautor zu dem Schrottplatzfilm trägt den Namen Schrotthofer, und der Regisseur von dem Meeresabenteuer heißt Fischer. Ganz klar: Hier walten Kräfte, die das Chaos ordnen! Beide Filme beginnen mit der orakelhaften Kontemplation von Tieren: Sodom mit den vorsichtigen Bewegungen des Chamäleons, Styx mit den Affen von Gibraltar. Die Kuratierung des Festivals ist so geglückt wie die gelungene Hängung einer Kunstausstellung! Und dann öffnet sich Welcome To Sodom, und gleicht mehr einem Tafelbild von Hieronymus Bosch, denn einem realen Abbild aus dieser Welt. Dabei gibt es ihn tatsächlich, den Ort Sodom. Wir haben ihn erschaffen. Mit jedem Schreibgerät, das wir wegschmeissen, helfen wir diesem Ort beim Wachsen. Es ist einer der giftigsten und fürchterlichsten Orte der Welt. Er heißt Abgobbloshie und ist ein Teil von Accra, Ghana, aber seine Bewohner nennen diesen Ort so: Sodom. Sie leben dort, auf dieser uferlosen Mülldeponie, jeder mit seiner eigenen Geschichte. Dieser Film erschüttert mich komplett! Vom ersten Augenblick an tränen mir die Augen. So etwas habe ich noch nicht erlebt. Und dann steche ich ins Blau von Styx, und sehe den besten Abenteuerfilm seit ... Susanne Wolff allein auf einer Segelyacht als Überheldin, sie ist eine Göttin – und sie zerbricht. Ich bin fassungslos, verliere den Boden unter den Füßen. Die Unterwelt ruft, aber die Götter enttäuschen. Die größere Ordnung ist kalt, es ist unser Wohlstand, der tötet. Die alte Magie ist nichts weiter als der Gestank der Verwesung! Raus aus dem Dunkel des Kinos, in die Sonne, ins Gegenlicht der Jakoministraße, den ganzen Weg runter bis zur Mur fliehend, Tränenbogen in den Augen. Auch wenn die Musik des deutschen Justin Bieber Kayef völlig uninspiriert und schlecht ist, ist mir ein Lied, in dem es irgendwie auch um Tränen im Sonnenschein geht, an dieser Stelle eine Randnotiz wert: Das Album mit dem Liedchen heißt CHAOS.


Nach diesen Filmen bin ich ein anderer. Was wollte ich gleich wieder in diesem wohlständigen Hotelzimmer ... einen Menschen umarmen? Mich mit aufgeritzten Pulsadern in die beschauliche Badewanne legen? Beides wäre nach diesen Filmerfahrungen plausibel, aber aufbrechen und weitere Filme schauen? Warum, weshalb, wozu? Vor allem: Wie? Nach Sodom und Styx einen weiteren Film zu schauen, ist barbarisch. Zumindest direkt im Anschluss. Erstmal innehalten. Hinsetzen. Schreiben. Dabei habe ich noch gar keine Festivalpremiere geschweige denn Uraufführung gesehen, Sodom und Styx sind noch Reste, Überhangmandate der letzten Saison. Aber gut, ich habe nie behauptet, die Filmkritik als Profession zu betreiben. In diesem Moment scheint mir meine Einladung auf dieses Festival, in dieses Hotelzimmer, ein einzig großes Missverständnis. Aber der von Schernhuber und Höglinger formulierte Anspruch gleich zu Beginn ihrer Amtszeit vor fünf Jahren rettet mich: »Die Diagonale erhebt keinen Anspruch auf vollständige Abbildung des gesamten heimischen Filmschaffens, sie bietet ein kuratiertes Programm ...«. Und ich erhebe keinen Anspruch auf vollständige Abbildung der gesamten Diagonale, setze mich an den Acer und schicke auf Facebook eine Meldung raus: 

»Nach Graz ins Kino musste ich reisen, um ein Gefühl zu bekommen für die Ohnmacht, die kennt, wer Leben und Tod in Händen hielt. Und inmitten eines Rettungsversuchs die Seite der Lebenden als kalt und abweisend erfuhr. Die totale Abgründigkeit, in einen Film gefasst und an eine Leinwand projeziert, hat sie mich heftig erwischt. Um in Zukunft mit wissenden Augen zu begegnen, wem sich in Gefahr und größter Not allein der Fährmann der Unterwelt als Gefährte anbot.« 
Mag pathetisch klingen, für mich ganz real.

Draußen ist Vollmond, ich sitze weiter im Wiesler, das Radio läuft und der Acer macht ähnlich kurze Sprünge wie der VW-Käfer auf der Schleißheimerstraße, damals in der Eröffnungsszene zu Das kleine Chaos: Das Trio steigt in den Käfer, nur um ihn ein paar Meter weiter hinter einem anderen Käfer wieder abzustellen. So springt und hakt der Acer. Was beileibe nicht so schmissig wie jene Eröffnungsszene ist, aber will ich jetzt ernsthaft auf die grüne Schreibmaschine umsteigen, die hier auf dem Sekretär neben dem Bett in nostalgischer Nutzlosigkeit ein gutes Bild abgeben soll? Ich weiß, der Acer ist reif für Sodom. Schon bald wird er dort landen, und der Feuermann wird ihn und alle Fingerspuren von mir und Fengler dort verbrennen. Aber die grüne Schreibmaschine ist so blöd wie der Anti-Feminismus in der Sprache von de Montherlant (Le Chaos et la nuit, 1963), oder die misogynen Gesten von Fassbinder ... und der Text muss fahren, auch wenn die Maschine hakt. Es ist der von Fengler verfingerte Acer, der die Richtung vorgibt. Dabei ist es nicht so, dass ich Michael Fengler verehre. Nein, seine Maschine kam zu mir, und ich muss mir einen Reim darauf bilden. In Mein schönes Leben als Junkie von Muriel Scheu lese ich folgende Anekdote zu den Vorbereitungen des Lemke-Streifens Arabische Nächte

»Am späten Montagvormittag nahm Michael Fengler, ohne eine Miene zu verziehen, die Drehgenehmigung für Tunis und Umgebung entgegen. Wie ich sie erkämpft hatte, interessierte nicht. Fengler bezog auch keine Stellung zu meinem Vorwurf, er habe mich nicht nur unter falschen Voraussetzungen (bei der deutschen Botschaft in Tunis hatten sie die Albatros-Filmproduktion in so schlechter Erinnerung, dass mir die Zusammenarbeit verweigert wurde, weil Fengler und Lemke alles versaut hatten. Natürlich hatten die zwei mir das verschwiegen), sondern auch ohne genügend Verrechnungsgeld nach Tunesien fliegen lassen.«

Mit dieser ganz anderen Geschichte haben wir uns nun wirklich weit entfernt von der Diagonale. Und sind schon wieder drin: Um 22:30 Uhr läuft im Schubert Querelle, Fassbinders unsterblicher Matrosenkitsch. Co-Produzent: Michael Fengler. 

Mit Querelle habe ich mich schon so ausgiebig beschäftigt, da muss ich nun nicht mehr hin, und der Grund für das Laufen ist freilich ein ganz anderer, hat vielmehr mit Hanno Pöschl zu tun, dem sich die Diagonale mit einer Retrospektive widmet. Aber gerade wenn es darum geht, genau zu sein, hat das Eine mit dem Anderen zu tun. Über verquere Umwege, die alle einem sich mir langsam erschließenden Maulwurfskanal folgen, scheine ich allmählich reinzukommen in die Diagonale. So ließe sich mühelos über Burkhard Driest, der als das deutsche Pendant zum Wiener Schauspieler und Gastronom Pöschl durchgehen könnte, und in Querelle nicht nur spielte, sondern auch am Drehbuch saß, eine Linie ziehen zu einem anderen alten Schmuckstück, das die Diagonale zeigt: Hans-Jürgen Syberbergs Meilenstein Romy – Portrait eines Gesichts aus dem Jahre 1967 (idiotischer Titel für diesen zauberhaft montierten Monolog aus Selbstzweifeln und schonungsloser Offenheit), denn Romy Schneiders Reaktion auf Burkhard Driests Erinnerungen an seine Jugend als Bankräuber, preisgegeben in der TV–Talkshow Je später der Abend anno '74, (»Sie gefallen mir ... Sie gefallen mir sehr!«), bleibt legendär. Und freilich ist das wieder die falsche Referenz, die richtige Referenz ist 3 Tage in Quiberon von Emily Atef. Der Nachbau von Schneiders letztem Interview, anno '81 in einem Spa in Quiberon, sehr groß dargestellt von Marie Bäumer, und hier begegnen wir auch Birgit Minichmayr wieder, aber es wird auch so herum rund: Das bretonische Quiberon ist gar nicht so weit weg von Querelles' Brest!

Wahrhaftig das Portrait eines monologisierenden Gesichts ist natürlich Paul Poets My Talk With Florence, das hier mit einem Kino-Konzert von Alec Empire wiedergesehen wird, und auch das ist ein Film, der jeden absolut kaputt hinterlässt, die Verdauung weiterer Filmprojektionen im Anschluss unmöglich macht. Aber zumindest von all jenen, die nicht einsehen wollen, was Otto Muehl für ein Drecksack war, geschaut werden sollte.

In unmittelbarer Nachbarschaft finde ich das Special »Staging Femininity – Projektionen von Weiblichkeit im österreichischen Film« mit mehrheitlich von Künstlerinnen ausgewählten Programmen, die Einblicke in den unabhängigen, experimentellen feministischen Film Österreichs der 1970er- und 1980er Jahre eröffnen. Es gab ja nicht nur Valie Export – sie kommt hier in einem Trouble Feature zur Geltung. Namen wie Moucle Blackout, Maria Lassnig, Mara Mattuschka, Lisl Ponger oder Linda Christanell wünsche ich in Zukunft an anderer Stelle nochmal zu begegnen, und auch wenn das momentan noch eine Utopie sein mag, eines Tages losgelöst und befreit aus dem didaktisch schubladisierenden Korsett »Frauenfilm« oder »weiblicher Blick«. Der Tag wird kommen! Anja Plaschgs Einreichung Das Schreiben und das Schweigen von Carmen Tartarotti macht mich glücklich: Friederike Mayröcker mag nicht sprechen, sie schweigt. Aber wie!

Wieder im Wiesler, Fenglers Schreibmaschine kotzt mich an, blökt: Schreib, du Schrottkopf! Ich winde mich, wehre mich: Buchstabengesicht, halt dein altes Maul, ich wechsel gleich rüber zur grünen Maschine! Aber die fasst ja schon seit dreissig Jahren keiner mehr an. Damals, als man seine Texte noch mit der Bim in die Redaktion brachte. Natürlich schreibt keiner auf der grünen Maschine, ich auch nicht. Aber wie zum Teufel soll ich auf der Maschine mit dem Fengler–Fluch etwas zu den aktuellen Filmen schreiben? Es geht nicht. Andere werden darüber berichten ...

Über das Jelinek-Kunstwerk Die Kinder der Toten vom Nature Theater of Oklahoma. Über den preisgekrönten JOY von Sudabeh Mortezai, der eine Geschichte erzählt von den Nigerianerinnen, die in Wien in Prostitution geraten. Über The Remains – Nach der Odyssee von Nathalie Borgers, der so erschütternd aber doch weniger sehenswert an Styx anschließt. Oder im Anschluss an Welcome To Sodom über den sehenswerten Bewegungen eines nahen Bergs von Sebastian Brameshuber, mit dem nigerianischen Autoverschrotter Cliff und seiner einsamen Werkstatt inmitten der steirischen Alpen. Über Erde, den neuen vom immer sehenswerten Nikolaus Geyrhalter. Und natürlich über GEHÖRT, GESEHEN – Ein Radiofilm von Jakob Brossmann und David Paede, den Sender Ö1 von innen aufschneidend. 
 

Und am Ende, der Festivalsieger: Chaos, von Sara Fattahi. Drei syrische Frauen an drei Orten – Schweden, Wien, Damaskus – in einer Meditation über den Krieg, der nicht endet. Egal, wo man ist. Chaos ist ein visuell komplexer Film über die Unsichtbarkeit, ein Gespräch über die Stille.



Zwischen Das kleine Chaos und Chaos liegt ein halbes Jahrhundert. Das Weltkino hat sich gewandelt, die Blickwinkel haben sich geweitet. Aber der Krieg ist noch immer nicht aus der Welt.





Anmerkung:


Welcome To Sodom läuft zwischen dem 08. und 19. Mai auf dem DOK.fest München.
Styx ist in sechs Kategorien für den deutschen Filmpreis nominiert, und ist bereits auf DVD erhältlich.

Das kleine Chaos ist täglich auf youtube zu sehen, und Chaos von Sara Fattahi startet am 04. Oktober in den österreichischen Kinos, der Deutschlandstart steht noch aus.