2020-12-20

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (1)

 1st Leg

Eines Hoftors Flügel öffnen sich dem Strom von Arbeiterinnen zur Mittagspause – und dem ersten Blick der Filmgeschichte: Der Projektor zeigt das Verlassen einer Fabrik, mal nach links, mal nach rechts abgehend wie auf einer Theaterbühne, in der Mehrzahl Frauen, die Männer zum Schluss. Helle Stoffe und Bolero-Hüte mit Schleifenbändern simulieren den Eindruck einer Dorfgemeinschaft in Sonntagskleidern, raus aus der Kirche, rein in den Salon. Doch die Kirche ist die fotochemische Fabrik zu Monplaisir, einem Quartier von Lyon, zur Herstellung von Lichtplatten im Auftrag von Antoine Lumière, Vater der Brüder Auguste und Louis, die mit ihrem Apparat, dem Kinematograph, nun diese Szene an einem sonnigen Tag im März 1895 festhalten – mit den perfekten Komparsen: Der eigenen Belegschaft. Als kostenlose Inklusiv-Statisterie, noch ohne Bewusstsein für das Gesehenwerden, müssen die Brüder keine weitere Anweisung geben, als einfach das Hoftor wie einen Vorhang öffnen- und die Menschen herauszulassen. Von denen keiner den direkten Blick des Objektivs erwidern wird. Die Brüder müssen die Menschenmenge nicht auffordern, ihres Weges zu ziehen ohne zu blicken, so wie Filmreporter Soldaten belehren müssen in "Apocalypse Now", dessen literarische Vorlage "Herz der Finsternis" entstand in den 1890er Jahren, zeitgleich zu dieser ersten aller Filmszenen. Die Finsternis im kolonialistischen Delirium, die leuchtende Arbeit im Lichtwerk von Lumière! Nein, das Herz wird nicht gezeigt, die Fabrik wird nicht von innen, nicht bei der Arbeit gezeigt. Gezeigt wird das, was der beiläufige Blick von außen schon kannte. Das Innenleben wird noch als tabu empfunden. Hinter dem Werkstor, hinter Mauern, bleibt die Arbeit verborgen, das Verlassen der Fabrik als Spektakel. Hundert Jahre später, 1995, bilanziert Harun Farocki: Am Anfang stehen die Arbeiter, doch die Arbeit an sich wird im Verlauf der hundertjährigen Filmgeschichte kein Protagonist werden: Die Arbeit an sich bleibt unattraktiv, sie stößt die Kamera mehr ab, als dass sie sie anzieht. Die Arbeiter verlassen die Fabrik, das Tor schließt sich.


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