2013-01-27

Satori in L.A.




Satori in L.A.

Von den einundzwanzig Tagen in L.A. landete jeder erster Morgenblick von mir auf der Leinwand neben meinem Bett: Ein Münchner im Himmel. Den Titel hätte ich niemals erraten. Im Halbdunkel von Hanks Atelier glaubte ich in dem abstrakten Liniennetz immer eine Weltkarte sämtlicher Munitions- und Waffendepots samt Lieferantenrouten zu erkennen, so sehr glich das Bild einem Geheimplan, und hinter einem Geheimplan steckt immer die Logik des Militärs. Wir ziehen in den Wirrwar wäre mir als Bildunterschrift und Persiflage auf solch eine Kartographie ganz plausibel erschienen. Aber Hank sagte "Nee, kuck doch...", und führte mir die Verwandlung von Truppenbewegungen zu Wolken und von Brennpunkten zu Bierkrügen und rings durch den Raum seine anderen Bilder vor, frisch  aufgestaffelt noch das blaue
Poolposter nach David Hockney. Blau in blauem Löschwasser
stand es hier bereitim Schindler House iWest Hollywood,
allöschendes Element für Lis on Fireeine Gruppen-ausstellung, die in wenigen Tagen in der David Lawrence
Gallery, drüben in Beverly Hills, auf die Feuerwalze vom 
letzten Spätsommer anspielen sollte. Als die hungrigen Flammen von den Hügeln bis nach Santa Monica runtergezüngelt waren. Aloisius Hingerl, der Engel aus Ein Münchner im Himmel, er hätte das Feuer sicher mit Bier gelöscht.

Kraulte ich vormittags den Kopf im Nacken in den ozeanischen Himmel getauchte Palmen und Orchideen im Blick durch die Vorgartenlagune der Cochran Avenue runter bis zum Pico Boulevard, krochen mir nach wenigen Schritten beissende Brandbilder in die Nase. Von einem inneren Warnsystem kuratierte Bilder, einem Meister des Realismus, der die prächtigsten Villen binnen Sekundenbruchteilen entwerfen, bauen und abrauchen lassen kann. Kopfkino, immer der Lunte nach. Dann war es nur der Ruß, der noch roch, als das italienisch angehauchte Schlösschen vor mir auftauchte. Am Tag vor meiner Ankunft soll es ein einzelgängerisches Feuer in einen sorrentinischen Holzofen verwandelt haben. Jetzt sah es aus wie ein verbranntes Capriccio, und machte nicht den Eindruck auf mich, jemals richtig real existiert zu haben. "Warmer Abriss", raunte Brandherdexperte Roberto Ohrt. Der Phantomforscher kennt sich aus mit Rauchzeichen – in seinem Badezimmer umspannt ein mit Worten ausgestanzter Lampenschirm eine Glühbirne, die, einmal angeknipst, als Laterna Magica ringsherum die Wortlichter in girum imus nocte et consumimur igni kreisen lässt. Das Anagram von Heraklit. Guy Debord hatte es einst wiederbelebt. Vorwärts wie rückwärts dreht es sich nun in Robertos Bad, Heraklits und Debords "Nachts gehen wir im Kreis und werden vom Feuer verspeist". Bei unserer ersten Begegnung in St. Pauli, unweit von dem lateinisch lichten Wortbad, wollte ich von ihm wissen, was eigentlich aus der situationistischen Internationale geworden sei. "Die ist gerade unterwegs", antwortete Roberto.
Und jetzt saß er da, in Hanks weißem Haus in West Hollywood, ganz Albert Finney in seiner Verkörperung des Konsuls in John Hustons Unter dem Vulkan–Verfilmung, mit dem Unterschied dass Robertos Sonnenbrille weiß gerändert ist. Saß da und teilte mir bei einer Partie Herz ist Trumpf einen Rat aus: "Du darfst nicht vergessen Abzuheben." Und genau das schätze ich mal ist mit dem LAND passiert, das einst hinter den Lettern von HOLLYWOOD stand. Vier Buchstaben, die nun fehlen wie die Filmrollen von Four Devils, Murnaus verschollenem Trapezfilm – abgehoben und in die Lüfte entschwunden.

Und ich denke an den Landeanflug zur Stadt der Engel, und an den Himmel über Berlin, in dem ja auch zwei Engel hocken, Bruno Ganz und Otto Sander. Der Wunsch, am Leben der Sterblichen teilzuhaben, wird bei Damiel alias Bruno Ganz so groß, dass er dafür bereit ist, auf seine Unsterblichkeit zu verzichten. Er lässt sich in die Welt hineinwerfen und verliebt sich in die Trapezkünstlerin Marion alias Solveig Dommartin, die sich nichts mehr wünscht, als sich von der Erdschwere lösen zu können. 
Neben mir, auf dem Flug von München nach Los Angeles, sitzt vielleicht kein Engel, aber eine Exil-Berlinerin. Ich mag diese Frau, die mir ihre ganze Geschichte erzählt. Die davon handelt, wie sie es geschafft hat, sich von der Berliner Erdschwere zu lösen. Von ihrer Flucht über die Ost-West-Grenze, im Kofferraum eines Diplomatenautos. 1977 war das, zehn Jahre bevor Wim Wenders nach Berlin kam, um den Himmel zu filmen. Mit ihrem ersten Mann, einem Physiker, zog sie zunächst nach Boston, und nun lebt sie getrennt und glücklich in Naples, Floridas Neapel. 
In diesem Moment öffne ich wieder meine Fluglektüre, starre sprachlos auf den Satz, auf den mein Blick im Buch von Enrique Vila-Matas fällt, falle wie aus allen Wolken. Der flüchtige Doktor Pasavento hat beschlossen zu verschwinden und verrät an dieser Stelle endlich dem Leser, also mir, wo er sich momentan aufhält: In Neapel.

Nicht ganz vierzehn Jahre zurückgeblättert. Im Sommer 1994 kaufte ich mir unterwegs nach Neapel an einer Tankstelle ein Tape, ein Album von David Bowie. Das 1977 mit Tony Visconti in Berlin – Hansa by the Wall steht als Studioname im Booklet – aufgenommene Heroes. Natürlich werden wir bei Heroes immer an die fünfzehnjährige Christiane F. denken. Wir, denen uns als Fünfzehnjährige der Bahnhof Zoo von Uli Edel in der Schule gezeigt wurde. Denken an die Szene, da Christiane und Detlef vor den Bullen aufs Dach vom Europa-Center flüchten und von dort oben unter dem blauweiß leuchtenden, und bis in alle Ewigkeit rotierenden Mercedes-Stern über die Brüstung wie zwei Engel ohne Flügel auf Berlin blicken, während Bowie, Eno und Fripp mit dem flirrenden Brandungsrauschen von Heroes unten im Parterre die Zeit in Schach halten. Nur wenige Monate vor meiner Reise nach L.A. war der Mercedes-Stern mit seinen zehn Metern Durchmesser und den 680 Leuchtstoffröhren erstmalig zum Stillstand gekommen. Man hatte die Motorik unter Hubschraubereinsatz im April 2007 reparieren lassen. Und ich denke an dieser Stelle an ein anderes Buch von Vila-Matas, das irgendwo im Kofferraum der Zeit zwischen 1977 und 2007 seinen Platz findet – Dada aus dem Koffer, ein dünnes Buch, in welchem ein Unterseeboot namens Bahnhof Zoo auftaucht. Vila-Matas schreibt, er wisse nicht, weshalb er es so nannte, aber nun ergibt sein Einfall Sinn.

Damals, 1994 unterwegs nach Neapel, war ich eigentlich gerade in einer Phase, da ich Platten von Black Flag aus L.A. zu hören und straight edge sein zu verstehen versuchte. Meinen eigenen Verbrennungsmotor pflegte ich allenfalls hochtourig und sportiv anzufeuern, und so kam es, dass ich nun gerade auf der Höhe jener Tankstelle, die Bowie im Kassetten–Drehständer führte, mit einer Überdosis Guarana zu kämpfen hatte. Herzrasen. Puls im Kopf. Panik. Heroes im Walkman beruhigte daraufhin die Nerven wie eine Boje inmitten turbulenten Fahrwassers, eine rettende Leitplanke für die Ohren. 
Bowie soll sich damals die Klangvorstellungen von Conny Plank gewünscht haben, und so soll der Titel auch als Referenz an das Stück Hero von Neu! verstanden werden dürfen. Plank habe aber abgewunken, für ein Popalbum wäre ihm seine Zeit zu schade. Und dann, dank Brian Eno, klangen Low, Heroes und Lodger doch noch nach Plank. Egal ob sich Bowie mal flennend fallen lässt, mal ausgenüchterte Traumbilder evoziert, ich höre das Album heute noch mit den Bildern von Amalfi im Kopf, mit neapolitanischen Treppen rauf und runter, mit Lust auf eine Pizza in Sorrent. Bowies Neuköln hat nur ein "L". Ein Neuköln, das streng genommen geographisch gar nicht verortbar ist, und so höre ich es und bin wieder im Gestrüpp von Capri, laufe den Berg von Capri rauf und runter, erinnere mich an eine Anekdote aus dem Doktor Pasavento, in der Vila-Matas schildert, wie er mit einer Gruppe spanischer Schriftsteller einen Nachmittag auf Capri verbringt, Bernardo Atxaga auf mysteriöse Weise mitten auf der kleinen Insel verschwindet, und erst, als alle nervös geworden sind, wieder auftaucht und erklärt, er habe sich nur unter eine Hochzeitsgesellschaft in der Villa Tiberius gemischt, und Pedro Zarraluki auf der Rückfahrt nach Neapel sauer ist, weil er lieber eine Exkursion nach Pompeji unternommen hätte, und V-2 Schneider höre ich und blicke in den Krater vom Vesuv. 
Zur selben Zeit, 1994, während einer Recherche über die Reise von Malcolm Lowry nach Pompeji, traf Roberto Ohrt die Vulkanologin Charlet Kugel in Neapel, aber damals hatte das noch nichts mit meiner Geschichte zu tun.

Kugels Bild von einem zerstörten Los Angeles hing nun im Januar 2008 gleich links neben Hanks Hockney in der David Lawrence Gallery. Gegenüber die schwarzen Messerschnitte, die Roberto aus Hamburg mitgebracht hatte, und die wir alle gemeinsam ein paar Tage vor der Eröffnung mit dem von Raymond Pettibon geborgten Projektor als Murals hingepinselt hatten. Hinter der Wand wiederum, an der Hank und Kugel hingen, fand sich das kleine Archivzimmer mit den zwei Kippenberg-Skulpturen – zig gerauchte Zigarettenstummel zu supersize-ashtrays geleimt, ein Abgeseng auf smoking times.
Daran musste ich denken, als ich an meinem letzten L.A.–Abend im Capri für einen Moment allein am Tisch zurückblieb, da die Anderen zum Rauchen rausgegangen waren. Daran, und wie ich in jenem kleinen Archiv das Buch Helter Skelter aus dem Regal gezogen hatte, und mir daraus ein böser Fluch von Charles Manson entgegengesprungen kam: "My thoughts will bring fire to your cities". Huch, schnell wieder zugeklappt und nicht dran denken! Daran dachte ich, und was Veronique Bourgoins Video Now I Wanna Be Your Horse wohl bedeutet haben mochte, das ebenfalls durch jenes kleine Archiv galoppiert war, und fragte mich, ob ich noch weiter auf mein Satori warten sollte, oder ob ich es schon gefunden hatte, nur noch erkennen musste.
Daran also, und wie stimmig vom ersten Moment an alles gewesen war, als ich am Morgen meiner Abreise in Richtung Franz-Josef-Strauss Flughafen in den Bus gestiegen war, und der Bus in meiner Straße schon die Richtung gewiesen hatte: US-Ostbahnhof. "Na klar", hatte ich gedacht, "von den USA aus betrachtet ist jeder europäische Bahnhof ein Ostbahnhof, ein US-Ostbahnhof". 

Das Capri ist ein von Martin Kippenberger gegründetes Lokal in Venice, dem Venedig von Los Angeles. Es ist Teil einer sehr gesättigten aber niemals befriedigten Welt, dachte ich, als ich Raymond Pettibon und seine Sorgenfalten wieder neben mir Platz nehmen sah. Das ist der Mann mit dem chronischsten Stirnrunzeln der Welt, dachte ich, und auch an die Cover von Black Flag, die er gemalt hatte. Deren Abschiedsalbum In My Head mich immer noch wegen der Raumaufteilung im Mix beeindruckt, wegen der Stimmen im Hintergrund und dem Hall, dem nach hinten gedrehten Henry Rollins. Wahrscheinlich hat ihn Raymonds Bruder so leise gedreht, denn im Vordergrund stehen Variationen vom immer gleichen Gitarren-Pattern von Greg Ginn, und Raymond Pettibons bürgerlicher Name ist Raymond Ginn. 
Ihm gegenüber, am Tischkopf, Roberto mit sonnenverbranntem Gesicht. Den Sonnenbrand hatte er vom Skifahren irgendwo in den Bergen, dem Mount San Antonio oder dem Mount Baldy, Raymonds Projektor hatte er im Kofferraum. Apropos Projektor – eine der interessantesten Veröffentlichungen des Jahres 2007 war Rise Above von den Dirty Projectors. Erst beim vierten Hörversuch dieser überdreht beboppten Musik fiel mir auf, was sich David Longstreth da zusammengereimt hatte, was den ganzen Clou bei der Sache ausmachte: Alle zehn Songs stammen aus der Feder von Greg Ginn, aus dem Black Flag Album Damaged. Mit einem völlig konträren Ansatz, der die Texte umso verstörender kommen lässt. Trällernde Stimmen mäandern durch die Depression, die Police Story mit Streichquartett und Querflöte arrangiert, die Originale ganz subversiv in ein farbenfrohes Licht gehängt.

Viele Türen hatten dieser Tage aufgehen müssen. Roberto hatte noch mit einem nicht anwesenden Andy Hope die Phantom Gallery am Sunset Boulevard eröffnet, und Daniel Richter war gelandet und hatte in Begleitung von Ted Gaier und Melissa Logan Rock und Polizei in den Regen Projects am Santa Monica Boulevard eingeweiht. Wir tranken auf die schwere Tür der David Lawrence Gallery, die wir gemeinsam fluchend die drei Stockwerke runter bis zu Lucys Bus geschleift hatten, damit Lucy Dodd zuhause ihr Rauchbild an die Tür qualmen konnte. Ein offenes Feuer in der Galerie hatte David verboten.
Lucy Dodd und ihr Rauchbild waren schon vormittags in der Erinnerung an das Konzert von White Williams im Echo wiedergekommen, unterwegs mit Hank in die Wüste, nach Joshua Tree. Hank legte die CD von White Williams ein, das Album heisst Smoke, es zündete sofort. Da kam natürlich das Rauchbild wieder, und Lucy, wie sie sich auf dem Konzert im Echo in eine Säule verliebt zu haben schien.

Joe "White" Williams erinnerte mich ein bisschen an den jungen Marc Almond, und zählte mir nach dem Auftritt seine Vorbilder auf: Cluster, Faust, Popol Vuh, Neu! – Krauts eben, während der Gitarrist mich an Robert Fripp erinnerte. Smoke sprach zu uns wie das Werk eines jungen Phoenix aus der Asche der Götter des Glampop, des New Wave und des DjuDju und aller Jugendträume dieser Welt, deren Zukunft irgendwann von einem Feuer verschlungen worden war. Auf der Höhe von Palm Springs hörten wir die Worte von Route to Palm, dem letzten Song des Albums: Once we found ice inside the flame, as inside I’m behind the flame, und We know we know we know we know the shadow. Ein Wind fegt die Wüste.

Zuerst veröffentlicht in IN München 07/2008 / revisited und überarbeitet 01 /2013.











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