2023-11-20

Melanie Chacko in der PE Gallery, Taipei City

Auf der Post in Taipeh schien der Fall klar, zumindest in den überraschten Augen der Zuständigen für ‚Cargo Insurances‘: Nicht erst die unterwegs aus München witterungs- oder transportbedingt entstandenen Spuren einer langen Reise mochten die Angaben der Schadensmeldung ‚Water Damage‘ bestätigen, die Malereien selbst waren es, die den Tatbestand von Wasserschaden zu erfüllen schienen. Wenn auch das Tropfwasser in Melanie Chackos Kunst elementar geronnen und gebunden und also nichts ist, was sich so einfach bereinigen ließe wie das, was vor ein paar Jahren die übereifrige Putzkraft vom Dortmunder Museum Ostwall in dem Gummitrog aus Martin Kippenbergers Installation Wenn's anfängt durch die Decke zu tropfen vorfand.

Auf eine subtilere und sehr weiche Weise unterlaufen Melanie Chackos Bilder den normativen Blick an Grenzkontrollen und überflügeln Schranken der Wahrnehmung von Kunst. Es sind amorphe Gebilde, auf den ersten Blick gleich Frozen Gestures, doch alsbald entpuppen sie sich als organische Körper, die sich beim Betrachten weiter formen, zu Gestalten wie aus Liquid Gaze und endoplasmatischer Reticula. Sie sind Teilabschnitte einer Struktur, welche selbst über der Bilder Randbezirke und Ränder noch fortzulaufen scheint, Teil eines pluriversalen Ganzen. Jedes Bild von ihr wird so zu einer Ergänzung und ist doch selbst beseeltes Unikat.

Wassergeister stecken schon länger in ihren Arbeiten, so auch in ihrer neuesten Werkserie Wind blows on the dust And snorts like a tremendous beast. Anders als in ihrer Werkgruppe Wind im Körper, 2019 entstanden für den Kunstpavillon im Alten Botanischen Garten München, reagiert hier die Begegnung mit Luft und Feuer in einer vertikalen Bewegung zwischen Freiflächen und wie ausbelichtet blendend blinden Flecken. Andersherum gesichtet, sind die hellsten Orte jene, an welche niemals Licht gedrungen – es sind die wandernden Rauten, die schon durch Chackos diesjährige Arbeit für BEYOND THE MATTER - Impressions of Eva Hesse zogen. Ob es nun züngelnde Flammen oder Segel im Wind sind, ich denke dass die Künstlerin einen abgrundtiefen Ozean aus Teelichtern und ein Meer fliegender Geisterschiffe unterhält, ja mehr noch: Melanie Chacko macht sie sichtbar.

Das Erste, was ich vor ein paar Jahren von ihr gezeigt bekommen sah, war ein Addendum zu ihrer Arbeit non-finito, die Korrespondenz zwischen ihrem Vater und dessen Mutter, ihrer Großmutter, in Form von Briefen aus allen Häfen dieser Welt. Chackos Vater hatte diese als junger Matrose auf Frachtschiffen bereist, er war dem Ruf der Ferne gefolgt kaum dass er der Schule entwachsen war. Abgesehen von der See waren Wasserstädte wie Venedig und Amsterdam seine Lieblingsorte. Venedig mit seinen Wasserschäden, der Flut jahrhundertelange Arbeit an der Häuser Fassaden. Daran denke ich, wenn ich nun in Chackos Bilder eintauche. Daran, und an Italo Calvinos Unsichtbare Städte. Marco Polos Fabulierungen darin von Orten, die vielleicht niemals existiert hatten, oder gerade deshalb ganz gewiss, in der phantastischen Weite von Raum und Zeit. Marco Polo, der Venezianer, hat sie gesehen. In den Bildern von Melanie Chacko kehren sie wieder, als Krater und als Inseln. Atolle in einem Meer mikroskopischer Dimensionen. Alles wiederholt sich, vergeht sich und erholt sich, erholt sich und vergeht. Nichts davon identisch, es bleibt die Variation.


https://performanceepistemology.com/Artist-Chacko

https://www.instagram.com/pe_galleryy/?next=%2Fdwdlbdry%2Ffeed%2F&hl=bg

<img src="http://vg04.met.vgwort.de/na/782d09f5859c4ec096cbe216a5bc42e4" width="1" height="1" alt="">


2021-09-26

Songtext: OKTOBERFEST

 

OKTOBERFEST

(Coney Island Baby)



Ich fahre mit dem Fahrrad 

Am Stadtrand


Einen Abend lang

Bin ich raus


Da ist noch alles da …

Sandkasten, Schule

Hochhaus


Träume wiederholen

Aus der Zeit gefallen

Ich denk' an meinen Lehrer

Mein Kopf rauscht


Alles vergessen

Bis zum großen Gong

Die Klasse, den Stoff, die Zeit

Absitzen, Ruuush-Hour!


Den Ball nur für den Lehrer spielen

Ooh lalala


Jeder Mensch wünscht sich –

 Anerkennung

vom Chef, der Gruppe

Ruhm, Rausch!


Mein Lehrer sagt

In jedem Ball steckt auch ein Tor

gefangen, viele Tore, befrei sie!


Oh, ich … bewundere ihn

Er spielt sein Spiel

Von ihm will ich lernen


Und ich weiss

Ja, ich spür’

Im Zentrum der Stadt

Gibt es Rausch!


Ich fahre mit dem Fahrrad 

Am Stadtrand

Ich erinner’ mich


Allein

Auf einer Bank sitzen

Mit lauter Fremden

Freunden 


meine und alle Stimmen

hören im Rausch


Eine sagt: So wie ich schau’

Kann ich Schau-Spielen

Und schau'n

Wie ich so durch’s Leben rausch


Und groß raus … komm


Vergiss die Prinzessin vom Hochhaus nicht

Wenn sie herabsteigt, dir deine Fehler vergibt  

Wenn du am Boden liegst, hilft sie dir auf

Wenn du am Boden liegst, hilft sie dir hoch

Und hält dich im


Oktober fest


Ich radle mit meinem Radl

Einmal quer durchs Hasenbergl

Und ich radle mich in Rausch


Ahhh … du willst … den Ball spielen


Und wenn du groß bist …

Mit’m Cabrio die Leo 

Rauf und runter … und rein in die Stadt!


Wie mein Lehrer … ihn muss ich gewinnen!


Ich muss noch ganz viel lernen,

Bis ich ihn bekomm’

Den großen Rausch


Ich bring die Platten in die Stadt

Alles rauscht!


Schhhhh …


Hohe Ziele

Die Welt tanzt auf dem Drahtseil


Im Keller, in der Stadt,

Treff' ich Träumer

Von der guten Welt im Rausch


Ich will nicht mehr

Für den Lehrer spielen

Ich hab’ sein Loser-Spiel geseh'n 


Jeder Chef hat einen Chef hat einen Chef –

Anerkennung?


Ein Kind träumt sich in Trance

Die Anerkennung im Rausch

Starrt stundenlang an die weiße Wand

Bis sie kommt, die Vision



Als ich vom Spielen 

Von draußen nachhause komm’

Alle Erwachsenen sind aufgeregt

Jemand hat eine Bombe gelegt

War es für Geld, höhere Ziele

Oder … Anerkennung?

Oh, Asche und Rausch!


Halt mich 

Im Oktober fest!

Halt mich

Im Oktober fest!


Halt mich

Im Oktober fest!

Halt mich

Im Oktober fest!


Wenn die Lichter ausgeh’n

Weisst du, was es heisst, zu lange

Auf dem Jahrmarkt unterwegs zu sein …


Halt mich

Halt mich fest fest

Halt mich 

Halt mich fest fest


Oktober fest!

Oktober fest!


Oktoberfest!



(An

 Die Lore, Operativer Vorgang Melancholie,

und alle, die von draußen kommen

Oder draußen sind. Wechsel nicht die Seiten, 

ehe sie zerreissen … )




Text: Federico Sánchez Nitzl / based upon 

Coney Island Baby, copyright Lou Reed – 

The Coach And The Glory Of Love, 1971

2021-04-15

Texte zu Musik: MURENA MURENA – Take Care Of Me

Und als ich den Augenschirm abnahm, wurde ich gewahr, dass ich nichts in der Hand hatte. Keine Riemen und keine Zügel, die ich die ganze Rennstrecke über an meinen Händen geglaubt hatte. Obwohl mir während der Fahrt schon klar gewesen war, dass das Bild vom Radlauf nicht der Realität entsprach, hatte ich keinen Eingriff gewagt. Aber dann musste doch Jemand Anderes die Steuerung übernommen haben! Wer? 

König Midas wünschte sich, alles in Gold wandeln zu können. Dionysos erfüllte ihm diesen Wunsch: Alles, was Midas mit Händen berührte, wurde zu Gold, auch Speise und Trank – so drohte er zu verhungern und zu verdursten. Er war ein König geworden, der sich nicht einmal mehr um sich selbst kümmern konnte. 

Die Dinge werden ungreifbar. Murena Murena macht auf Take Care Of Me die Kehre: Seine neuen Stücke sind Silhouettefahrzeuge in der Umkehrung aller Verkehrsformeln, die nach Geschwindigkeit und Fortschritt streben. Es geht auch mit dem Rücken auf dem Boden, es geht auch rückwärts! In Murena Murenas Augmented Reality Roll dreht und dehnt sich Sprache, Rhythmus und Harmonie immer auch in die entgegengesetzte Richtung. Die Richtung, aus der wir/sie gekommen waren. 

Wenn die Idee von einem Monoposto war, den Beifahrer durch einen Rückspiegel zu ersetzen, und fortan im Auge des Fahrers die Strecke vorwärts wie rückwärts laufen zu lassen, dann lässt sich auch auf einem Stuhl sitzend, mit auf den Lidern aufgemalten Augen ein U–Turn vollziehen. Ein Mandrill wird schnell zur Sphinx. Und ein Weinschwärmer sieht soviel wie eine Feuerwanze. 

Trockensumpfschmierung in der Box: Von einer Stirnradkaskade angetriebene Nockenwellen sorgen durch ihre Drehbewegung für eine zusätzliche Verwirbelung des Heliumnebels im Kurbelgehäuse. Das ist natürlich kaum zu fassen. Vorbei die Nasssumpfschmierung von Shame Over! Du Hörer musst jetzt mal selber in die Seile greifen und wellenartige Bewegungen ausführen, die Seile ziehen und knallen lassen. Wird dir schwarz vor Augen, hast du wieder beide Hände frei.

Linernotes zu Musik: IPPIO PAYO & GENELABO – Nobody Answers Questions

Auf auf, in die Nacht. Wir lassen Haus, lassen Land. Kein Morgentau hält uns! Fort mit uns, ins dunkle Meer! Wir verlassen uns auf das Boot, es heisst Roditelj. Die Väter sind in den Bergen, sind hinter den Bergen. Das Boot hat zwei Masten, wie neue Eltern. Alte Bracera, trag uns auf Winterwellen und trotze der Bura, dem Wind aus Nordost. Trag uns weit fort, es nahen die Faschisten! 

Menschen sind auf der Flucht, während sich diese Platte dreht. Die Schallwellen auf dieser Platte wissen noch nicht, wohin es sie treibt. Doch Linien werden gezogen. Eine führt von Vis nach Bari, am Ende des Jahres 1943, von Jugoslawien nach Italien, von einem Camp zum Nächsten. Alte, Frauen und Kinder, Jüdinnen und verwundete Partisanen, im Geleit der süditalienischen Resistenza und der britischen Befreier. Aber die Reise fängt schon vor Vis an, mit so vielen Linien, die von so vielen anderen Inseln und Orten aus ihren Lauf nehmen. Von Makarska und Korčula, Brač und Šolta, Vodice, Hvar und anderswo, sammeln sich Zehntausende in Vis und queren die Adria. Und ihre Reise endet nicht dort, in Bari, Tuturano und Taranto. Es geht runter, auf größeren Schiffen aus Stahl, im Februar 1944. Unter schützenden Sternen und Stampfen der Maschinen unter Deck geht es runter nach Afrika! 

Jemand Kluges hat einmal gesagt, für Fische sind Seen Inseln. Und dennoch sind die Fische auf diesen Inseln aus Wasser nicht unbedingt in Sicherheit. So ähneln in dieser Szenerie die Flüchtenden den Fischen, in ständiger Furcht, in ein Netz zu geraten, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Das Meer ist ihnen eine Insel, aber was wird sie am anderen Ufer erwarten? Unter der Meeresoberfläche lauern Minen und U-Boote, und der Himmel droht mit Angriffen aus der Luft. 

Und dann öffnet sich dem Blick nichts weiter als weiter Sand. Nach Port Said, Ägypten, liegt vor uns, am Ende einer geisterhaften Bahnstrecke: El Shatt. Weiße Stoffstadt, in Reih und Glied inmitten der Wüste Sinai. Nicht Himmel, nicht Hölle. Untertags ein Fegefeuer, nachts eiskalt wie ein Grab. Anderthalb Jahre teilt sich in den britischen Segeltuchzelten die Kommune der Vierzigtausend ihr Bett und Brot, ihren in Kommitees organisierten Alltag. Es bleibt Zeit für Kulturleben mit Theater und einer Chorgruppe unter Star-Leitung von Josip Hatze aus Split. Von den unter-Zweijährigen und den Alten werden Viele das neue Jugoslawien unter Leitung von Josip 'Tito' Broz nicht mehr erleben, sie bleiben dort, unter dem Wüstensand von El Shatt.

Es ist nun über zwanzig Jahre her, da mein Freund, der Musiker Josip 'Ippio Payo' Pavlov, in Zagreb in den Nachtbus stieg, über die Alpen fuhr und in München eine neue Heimat fand. Ein Denken in Nationalismen ist Josip, der auf der Insel Murter aufwuchs und sich selbst als Illyrer bezeichnet, völlig fremd. Die Historie von El Shatt begleitete ihn erst, als er vor zwei Jahren auf Solo-Tour mit Bus und Bahn und der Buchlektüre von Alida Bremers „Olivas Garten“ in Süditalien zwischen Bari und Taranto unterwegs war. Zurück in München, war es Gene 'Genelabo' Aichner, der El Shatt als Handlungsanweisung verstand, die Fluchtgeschichte als Leitmotiv für eine Audiovisuelle Performance aufzugreifen. In Korrespondenz zu Josips musikalischem Uhrwerksystem aus Gitarrenläufen und Arpeggios, Standpauken- Glockenspiel und elektrischer bis elektronischer Raumerweiterung, entwirft Gene Räume aus Projektionsverläufen und Mapping. Live im Spiel wirft Gene dann über Josips Klangrauschen sein Netz aus Lichterlinien, das sich im Rhythmus dreht und wandelt, mal das fluide Wesen des Wassers nachzeichnet, mal die Wände auf- und abklettert. Grenzlinien verschieben und auflösen, ein Spiel mit offenem Ausgang.

Linernotes zu Musik: JASON ARIGATO – Jason Be Sad/Jason Be Glad

Ein E-Dur-Akkord klopft an. Jasons echologische Sonografie beginnt. Wie ein Wellenbrecher im Ozean der Frequenzen stehe ich in der Schallkurve. Mit leicht angewinkelten Beinen, den Oberkörper nach vorne gebeugt, den Kopf zwischen den Boxen. Zuvor habe ich an der Soundanlage das kleine Loudness- mit dem großen Volume-Rad synchronisiert und bei Stufe Sieben eingepegelt. Vorkehrungen, die getroffen werden mussten, um Jason Be Sad / Jason Be Glad wirklich zu erfassen, von der Musik erfasst zu werden – Stereophonie ist maßgeblicher Bestandteil dieser Aufnahmen. Es zählt die Summe, gehört in Isolation, aus zwei Kanälen kommend. Da bleibt dem Kopf was zu tun. Der befindet sich langsam in einem intimen Erfahrungsraum, sich bald öffnend als still geglaubtes Jugendzimmer, sich bald wandelnd in schwingendes Gewebe der Jahrzehnte. Ich höre Konstanten: Wellen der Angst im Schlafsaal, die Liebe im Lesesaal. Unerreichbar, wie in einer fernen Galaxie, die Klasse der Bibliothekarin. Zwei Ausgänge, links der unendliche Rausch, rechts der endliche Tod. 

Schließlich erzählt diese Platte von Isolation. Nicht von "Einsamkeit/Loneliness", jener romantisierten, stilisierten Mystifikation von Isolation, die es im kanonisierten Repertoire aller Populärmuik zu hören gibt. Jene "Einsamkeit" verhandelt Jason Arigato nicht. Nein, was ich hier höre, ist der Jugend Isolation ... und Techniken ihrer Überwindung, Überbrückung. Anknüpfungsversuche im Widerhall einer Re-connection. Hier wird sie existenzialistisch ernst genommen, die Klasse der Jugend, ihr Isoliertsein von der Welt. Ich erinnere mich: An die warme Semmelluft in den gelben Telefonzellen, das Blättern in den tausendseitigen Telefonbüchern einer Stadt. An die Versuche, mit der richtigen Münzkombination eine Extrarunde hinzubekommen. An Telefonstreiche mit spätlüsternen Pensionären und prophetischen Bibliothekarinnen. Und das erwartungsvolle Hoffen auf die Offenbahrung einer interplanetarischen Dimension mittels ruckelnder Stimulation der Wählscheibe des mausgrauen Haustelefons. Bewusste Falschbedienung des Apparats. Das Eindringen in fremde Ferngespräche, die Stimmen kaum hörbar, übertönt von Säuseln und Pfeifen. Ganz ähnlich den Geisterstimmen auf den Langwellen der äußersten Randzonen des Radios.

Diese in ferner Vergangenheit versunkene Welt höre ich in Jasons Platte. Und die Grundschule mit den Geister- und Kriegsgeschichten von Herrn Feldmann. Der wie ein Beatnik im Anzug ergraute Klassenlehrer fabulierte uns Kindern was von der Existenz telepathischer Kräfte und universeller Verbindungen am Beispiel eines Experiments der Marine mit Wolfsmüttern und ihren Welpen: Ab einer gewissen Tauchtiefe war kein Funkverkehr zwischen U-Boot und Festland mehr möglich, sorgte man aber dafür, dass es den Welpen im Boot nicht gut ginge, zeigte die Mutter an Land eine eindeutige Reaktion, die zeitlich exakt korrespondierte. Ich weiß nicht, ob diese Geschichte wahr ist, aber nun, beim Hören dieser Platte, kommt sie mir wieder in den Sinn. Und ich glaube, dass es in Jasons Stereophonie eben darum geht: Erzeugung von Isolation, Zusammenführung in Wellenform, Aufhebung der Isolation. Eine Space–Age–Voodoo–Simulation.

2021-04-13

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (8)

8th Leg / Erinnerung an Malambo:


»Tonkino« – ein Wort im Niemandsland. In kapitalen Lettern steht es auf der Außenwand von einem einstöckigen Haus mit Walldach, halb Dorfschule, halb Zeughaus, verschlossen und stumm ... allein drei Stufen und dies überschriftliche Wort heben es ab von der menschenleeren Hauptstraße: Das »Tonkino» von Großkadolz im niederösterreichischen Weinviertel. Mit der Fluchtlinie ins Pulkautal gehört ihm die Vorspielsequenz. Ein junger Mann in Schuljacke, Koffer in der Hand, wirft einen letzten Blick darauf. »Keine Fessel haltet ihn – Ehrich Weiss« steht auf dem Koffer, wie auf einer Piratenflagge. Im nächsten Bild ist der Kofferjunge schon auf dem Feldweg Richtung Wien, mit dem Kopf noch einmal im Projektionsraum von diesem stillen Tonkino – zur Vorführung einer Selbstbefreiung aus der Zwangsjacke.


Klaus Rohrmoser ist Chris, Entfesselungskünstler auf der Suche nach Engagements als Ehrich Weiss, dem bürgerlichen Namen von Harry Houdini. Eine menschliche Traumwolke, zum Regnen nicht bereit, die einfach durch »Malambo« gleitet, längst vergessenes Filmdebüt von Milan Dor. Worte aus dem Projektionsraum: »Man soll überhaupt nur das Unmögliche versuchen. Weil das Mögliche sowieso mühelos und ohne Widerstand geschieht. Man muss Widerstand leisten. Um leben zu können.« Milans Vater Milo Dor, bedeutender Wiener Schriftsteller, der wie Houdini in Budapest das Licht der Welt erblickte, gibt uns diesen bedeutenden Rat mit auf den Weg. Als Zaubermeister, mit einer weißen Taube im Schwarz der gegenlichternen Sonne.


Im Wien von Malambo sind Milan Dors Kindheit und Jugend in Belgrad mit im Gepäck, Banat und Jugoslawien noch real existent. Alle suchen ihr Glück in Wien, die Schauspieler im Film wie im echten Leben. Aber Glück und Erfolg sind zwei Paar Schuh! Miodrag Andric will in Wien auch nach seiner erfolgreichen Darstellung vom erfolglosen Mischa keiner kennen. Derweil ist Andric damals schon vor jugoslawischen Fernsehschirmen gefeierter Stand-up Comedien. Auch für die Israelin Nirit Sommerfeld wird auf ihre Darstellung der traumfängerischen Nada keine große Karriere beim Film folgen. Für Malambo verzichten sie alle auf ihre Gagen. Sie werden für immer das Fantasien von Chris bewohnen, der kein einziges Kunststück beherrscht, aber die innere Ruhe nicht verliert.


Mit dem eigentlichen Malambo, einem von Trommlern geführten argentinischen Stampftanz, hat nun dieser poetisch luftige Malambo freilich nichts zu tun. Nach einer retrospektiven Wiederaufführung auf der Diagonale Graz erklärt Milan Dor, er habe den Titel einfach deshalb gewählt, weil er sich vorstellte, dass das Wort auf einem Plakat gut wirken müsse. Ich erinnere mich so gern an jene Vorstellung im Kino Rechenbauer, ziehe den versunkenen Malambo sämtlichen millionenschweren Dor-Filmen vor. Nicht zuletzt wegen der wunderschönen Musik von Flora St. Loup! Die dafür sorgte, dass das Malambo-Wien schon 1984 nostalgisch schwang. Der 8th Leg von Le Millipede erinnert mich nun auf wundersame Weise an ihre Musik, und damit an Malambo. An die Entfesselung der eigenen Spielregeln. An ein kurzes Stück Autonomie. An das seifenblasene Glück der Straße.

                      -Pico Be in der Au, 13/04/2021


Malambo (Österreich 1984, Regie: Milan Dor. Kamera: Toni Peschke. Schnitt: Eliska Stibr. Mit: Klaus Rohrmoser, Miodrag Andric, Nirit Sommerfeld, Dietrich Siegel, Oliver Stern, Dagmar Schwarz, Georg Trenkwitz u.a.)


DVD Der Österreichische Film / Edition Der Standard #63 / Hoanzl / filmarchiv austria

2021-02-23

Serie: Filmessays zu Musikstücken von Le Millipede (6/7)

 Ein Holzschuh für den sechsten, eine Zweitausend Jahre alte Schrift für den siebten Tausendfuß


Nur zweieinhalb Stufen, dam-dam-di-dei, kommt ein Knäuel Kinder aus dem Schulhaus auf die Straße gewuselt. Nur zweieinhalb Stufen, der kleine Minek nimmt sie im Sprung, lambdi-sol-fa, zu einer einzigen Stufe im Akkord, und von seinen Zoccoli fällt die linke Sohle entzwei. Gezurrt wie geschnürt, sie will doch nicht halten, tapst Minek barfuß mit den erst gelernten Buchstaben durch den Märzbatz. Sechs Kilometer Matschweg von Treviglio zum Hof, simpel und eben die Stufe am Klavier, stecken zig Füße im Bauernakkord zur Lombardei: Die Wäsche im Fluss, von der Schubkarre gerollt, die Ernte im Wagen, auf der Waage geschummelt, das Korn in der Mühle, hinauf sind's sechs Stufen, der aufkeimende Drang, des Anrainers Antrag an Ostern gereift, statt Zierblumen Mais, über Holzbalken gehängt, die Gans auf dem Hackklotz, den Kopf abgeschlagen, das Pferd auf der Straße, umringt und gefangen von Armen und Rufen, und immer wieder das Feld ... Minek soll es überspringen, all das, in der Provinz von Bergamo, im Jahr 1898, so der Gemeindepriester es will. 


Ein Jahr der Unruhen: In Mailand wird bei einer Demonstration gegen einen in die Höhe  schießenden Weizenpreis in die Menge geschossen, mehr als hundert Unbewaffnete fallen im später so genannten Bava-Beccaris-Massaker dem Einfall eines Generals zum Opfer. Politische Agitationen gegen die feudalen Verhältnisse werden blutig niedergeschlagen, sozialistische Anarchistinnen und Katholiken verfolgt und verhaftet. All das in "Der Holzschuhbaum" nur als Rauchfahne in weiter Ferne angedeutet – tun die im Film zum Leben gebrachten vier Bauersfamilien doch so, als hätte all das gerade nichts mit ihrem Leben zu tun. Wenn zur Weihnacht die Zampogne spielen, lauschen sie draußen vor der Tür, mit ehrfurchtsvoller Miene der Sackpfeifen Klänge von weit her aus dem eisigen Nachthimmel vernehmend, in andächtiger Selbstlosigkeit nichts sagend, allerhöchstens "die Pipes müssen gewiss frieren, in dieser kalten Nacht". In diesem Moment werden sie zu einem engelshaften Publikum, das uns Zuschauer in Verlegenheit bringt. Zum Aufbegehren hätten die Engel dabei allen Grund: Als Angestellte ihres Haus- Hof- und Grundbesitzers dazu verpflichtet, diesem 2/3 aller Erträge abzutreten, sind sie verdammt zu einem Leben als Aussätzige, ohne Hoffnung auf Besserung. In uns Zuschauern möchte sich Empörung regen – Mineks Eltern Batisti und Batistina kennen nur Glaube, Demut und Geduld. 


Nur? Steckt in dem kleinen Verbrechen, das Batisti ohne zu Zögern, seinem Minek den Schulweg zu ermöglichen, mit handwerklicher Hingabe auf sich nimmt, etwa weniger Liebe, als wenn ein Großstadtbohemien sich in einer halbwegs vergleichbaren Situation heutzutage ein Paar fabrikneue Schuhe von Zalando in seine gewohnte Bequemlichkeit hineinliefern lässt? Wie tief in uns rührt doch die Sanftmut in Batistis Blick, die eine stille, geduldige Demut ist, gerade aufgrund ihrer Sprachlosigkeit. Eine Demut, die so stark in ihrer Person verhaftet ist, diesen Diener der vier Jahreszeiten stumm wie ein Zacharias alles ertragen zu lassen, dass sich selbst unsere Empörung in Scham wandelt. Und dann ist es die Selbstverständlichkeit, mit der diese armen Landarbeiter den noch Elendigeren zu jeder Mittagszeit die Tür offen halten, auf dass diese ihren Teil der Polenta abbekommen, welche uns sprachlos macht. 


Am Ende kennen sie keine Solidarität. Die Familien wetteifern um das kleine Glück, so wird  der Einzelne verwundbar. Großvater Anselmo freut sich gerade über das erfolgreiche Aufgehen seines schelmischen Tricks, die Tomaten mittels Hühnerkot drei Wochen früher zur Reife und also vor allen anderen auf den Markt zu bringen, da trifft des Grundbesitzers Willkür die Battisti hart: Trotz des Neugeborenen vor die Tür gesetzt, wegen einer heimlich gefällten Pappel, so endet auch Mineks Schulbildung mit der Verbannung ins obdachlose Elend, in Flucht und Vertreibung, noch in der ersten Stufe. Was wir gelernt haben, nicht zuletzt: Es gab vor unserer Zeit eine Zeit, da Tomaten noch die Jahreszeit kannten, die ihnen als Reifezeit gegolten hatte. 


------------------------------------------------------------

Auf der anderen Seite, im Süden Italiens, ertönt wieder die distorsionierte Fabriksirene aus dem "1st Leg", diesmal als Megaphonstimme, die Aufruf zur Demonstration wie auch Gebetsruf sein kann:  Mit der stummen und stillen Demut ist es vorbei. Ganz anders als in der zeitlos prächtigen Arbeit von Ermanno Olmi und den Laiendarstellern aus Bergamo ist dies hier keine realistisch nachempfundene Rekonstruktion von Leben, "Das Neue Evangelium" ist Agit-prop-Cinema-verité, dokumentarisches Spektakel und politisches Passionstheater bzw. zeitgemäße making-of-Film-Oper, und findet jetzt gerade und heute statt. Hier und heute, denn unser tägliches Brot sind Tomaten, in Ewigkeit, Amen. Die Arbeiter verlassen nicht mehr die Fabrik, sie sind sowieso draußen, von allen verlassen, permanent oder temporär, alles ungewiss und fragil, denn die Fabrik ist das Land. Die Arbeiter sind real, es sind Geflüchtete und Vertriebene, gestrandet in Matera, der Höhlenstadt der Basilicata, wo schon der katholische Kommunist Pasolini sein Jerusalem fand. Der Pasolini-Jesus-Darsteller von 1964, Enrique Irazoqui, fand auch 2019 wieder den Weg nach Matera. Diesmal durfte er Johannes den Täufer geben, der Jesus bei Milo Rau ist schwarz und heisst Yvan Sagnet. Die Arbeitsteilung zwischen Rau und Sagnet ist diese: Rau macht all das auf Einladung der Kulturverwaltung, etwas zu Materas Kulturhauptstadtjahr 2019 beizutragen, Sagnet macht, was er macht, weil er sowieso seit Jahren schon genau das macht: Die Landarbeiter sozialrevolutionär aufklären und für bessere Lebensbedingungen kämpfen, da ist es zur Jesus-Rolle on top nurmehr ein kleiner Schritt. Jesus Christus war ein sozialrevolutionärer Heilsbringer für die Armen und Entrechteten. Kann ein Aktualitätsbezug über diesen Film so massiv hergestellt werden, dass sich  die Situation der Arbeitenden zum Positiven wandelt? Vor Ort, here, there & everywhere? Macht der Film als Film darüber hinaus und überhaupt Sinn? "Das Neue Evangelium" ist ein Experiment und eine Reality, die heute in temporärer Ewigkeit geschaut werden kann.



Der Holzschuhbaum (OT: L'albero degli zoccoli, Italien/Frankreich 1978, Regie, Kamera & Drehbuch: Ermanno Olmi. Mit Laiendarstellern aus der Provinz Bergamo, in Originalsprache: Lombardisch. Auf keinen Fall in deutscher Synchronisation schauen!*)**


Das Neue Evangelium (Theater- und Filmprojekt von Milo Rau, Matera, Italien 2019/20, Filmstart 17. Dezember 2020)


*Immerhin hat die Synchro im deutschen Verleih mit dem Kompositum "Holzschuhbaum" eine deutsche Titelgebung noch schön hinbekommen, was in der deutschen Verleihpraxis schon erstaunlich genug ist. An einem Kompositum, Spezialität der deutschen Sprache, könnten so manche Verleihverbrecher sich durchaus des Öfteren mal versuchen.


**Mit cinephilen Grüßen an Andreas Heckmann, an Al Pacino sowie an das Werkstattkino – drei, die mich, voneinander unabhängig, vor Zeiten auf dieses Filmwunder aufmerksam machten. Goldene Palme von Cannes 1978.



Zugabe: 


Olmis "Altes Testament" mit nomadischen Wüstenbewohnern:

Die Bibel – Genesis (OT: Genesi – La Creazione e il diluvio, Italien/BRD 1994, Regie, Kamera & Drehbuch: Ermanno Olmi. Mit Laiendarstellern und Komparsen aus Marokko, in Marokko.)