Ein Holzschuh für den sechsten, eine Zweitausend Jahre alte Schrift für den siebten Tausendfuß
Nur zweieinhalb Stufen, dam-dam-di-dei, kommt ein Knäuel Kinder aus dem Schulhaus auf die Straße gewuselt. Nur zweieinhalb Stufen, der kleine Minek nimmt sie im Sprung, lambdi-sol-fa, zu einer einzigen Stufe im Akkord, und von seinen Zoccoli fällt die linke Sohle entzwei. Gezurrt wie geschnürt, sie will doch nicht halten, tapst Minek barfuß mit den erst gelernten Buchstaben durch den Märzbatz. Sechs Kilometer Matschweg von Treviglio zum Hof, simpel und eben die Stufe am Klavier, stecken zig Füße im Bauernakkord zur Lombardei: Die Wäsche im Fluss, von der Schubkarre gerollt, die Ernte im Wagen, auf der Waage geschummelt, das Korn in der Mühle, hinauf sind's sechs Stufen, der aufkeimende Drang, des Anrainers Antrag an Ostern gereift, statt Zierblumen Mais, über Holzbalken gehängt, die Gans auf dem Hackklotz, den Kopf abgeschlagen, das Pferd auf der Straße, umringt und gefangen von Armen und Rufen, und immer wieder das Feld ... Minek soll es überspringen, all das, in der Provinz von Bergamo, im Jahr 1898, so der Gemeindepriester es will.
Ein Jahr der Unruhen: In Mailand wird bei einer Demonstration gegen einen in die Höhe schießenden Weizenpreis in die Menge geschossen, mehr als hundert Unbewaffnete fallen im später so genannten Bava-Beccaris-Massaker dem Einfall eines Generals zum Opfer. Politische Agitationen gegen die feudalen Verhältnisse werden blutig niedergeschlagen, sozialistische Anarchistinnen und Katholiken verfolgt und verhaftet. All das in "Der Holzschuhbaum" nur als Rauchfahne in weiter Ferne angedeutet – tun die im Film zum Leben gebrachten vier Bauersfamilien doch so, als hätte all das gerade nichts mit ihrem Leben zu tun. Wenn zur Weihnacht die Zampogne spielen, lauschen sie draußen vor der Tür, mit ehrfurchtsvoller Miene der Sackpfeifen Klänge von weit her aus dem eisigen Nachthimmel vernehmend, in andächtiger Selbstlosigkeit nichts sagend, allerhöchstens "die Pipes müssen gewiss frieren, in dieser kalten Nacht". In diesem Moment werden sie zu einem engelshaften Publikum, das uns Zuschauer in Verlegenheit bringt. Zum Aufbegehren hätten die Engel dabei allen Grund: Als Angestellte ihres Haus- Hof- und Grundbesitzers dazu verpflichtet, diesem 2/3 aller Erträge abzutreten, sind sie verdammt zu einem Leben als Aussätzige, ohne Hoffnung auf Besserung. In uns Zuschauern möchte sich Empörung regen – Mineks Eltern Batisti und Batistina kennen nur Glaube, Demut und Geduld.
Nur? Steckt in dem kleinen Verbrechen, das Batisti ohne zu Zögern, seinem Minek den Schulweg zu ermöglichen, mit handwerklicher Hingabe auf sich nimmt, etwa weniger Liebe, als wenn ein Großstadtbohemien sich in einer halbwegs vergleichbaren Situation heutzutage ein Paar fabrikneue Schuhe von Zalando in seine gewohnte Bequemlichkeit hineinliefern lässt? Wie tief in uns rührt doch die Sanftmut in Batistis Blick, die eine stille, geduldige Demut ist, gerade aufgrund ihrer Sprachlosigkeit. Eine Demut, die so stark in ihrer Person verhaftet ist, diesen Diener der vier Jahreszeiten stumm wie ein Zacharias alles ertragen zu lassen, dass sich selbst unsere Empörung in Scham wandelt. Und dann ist es die Selbstverständlichkeit, mit der diese armen Landarbeiter den noch Elendigeren zu jeder Mittagszeit die Tür offen halten, auf dass diese ihren Teil der Polenta abbekommen, welche uns sprachlos macht.
Am Ende kennen sie keine Solidarität. Die Familien wetteifern um das kleine Glück, so wird der Einzelne verwundbar. Großvater Anselmo freut sich gerade über das erfolgreiche Aufgehen seines schelmischen Tricks, die Tomaten mittels Hühnerkot drei Wochen früher zur Reife und also vor allen anderen auf den Markt zu bringen, da trifft des Grundbesitzers Willkür die Battisti hart: Trotz des Neugeborenen vor die Tür gesetzt, wegen einer heimlich gefällten Pappel, so endet auch Mineks Schulbildung mit der Verbannung ins obdachlose Elend, in Flucht und Vertreibung, noch in der ersten Stufe. Was wir gelernt haben, nicht zuletzt: Es gab vor unserer Zeit eine Zeit, da Tomaten noch die Jahreszeit kannten, die ihnen als Reifezeit gegolten hatte.
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Auf der anderen Seite, im Süden Italiens, ertönt wieder die distorsionierte Fabriksirene aus dem "1st Leg", diesmal als Megaphonstimme, die Aufruf zur Demonstration wie auch Gebetsruf sein kann: Mit der stummen und stillen Demut ist es vorbei. Ganz anders als in der zeitlos prächtigen Arbeit von Ermanno Olmi und den Laiendarstellern aus Bergamo ist dies hier keine realistisch nachempfundene Rekonstruktion von Leben, "Das Neue Evangelium" ist Agit-prop-Cinema-verité, dokumentarisches Spektakel und politisches Passionstheater bzw. zeitgemäße making-of-Film-Oper, und findet jetzt gerade und heute statt. Hier und heute, denn unser tägliches Brot sind Tomaten, in Ewigkeit, Amen. Die Arbeiter verlassen nicht mehr die Fabrik, sie sind sowieso draußen, von allen verlassen, permanent oder temporär, alles ungewiss und fragil, denn die Fabrik ist das Land. Die Arbeiter sind real, es sind Geflüchtete und Vertriebene, gestrandet in Matera, der Höhlenstadt der Basilicata, wo schon der katholische Kommunist Pasolini sein Jerusalem fand. Der Pasolini-Jesus-Darsteller von 1964, Enrique Irazoqui, fand auch 2019 wieder den Weg nach Matera. Diesmal durfte er Johannes den Täufer geben, der Jesus bei Milo Rau ist schwarz und heisst Yvan Sagnet. Die Arbeitsteilung zwischen Rau und Sagnet ist diese: Rau macht all das auf Einladung der Kulturverwaltung, etwas zu Materas Kulturhauptstadtjahr 2019 beizutragen, Sagnet macht, was er macht, weil er sowieso seit Jahren schon genau das macht: Die Landarbeiter sozialrevolutionär aufklären und für bessere Lebensbedingungen kämpfen, da ist es zur Jesus-Rolle on top nurmehr ein kleiner Schritt. Jesus Christus war ein sozialrevolutionärer Heilsbringer für die Armen und Entrechteten. Kann ein Aktualitätsbezug über diesen Film so massiv hergestellt werden, dass sich die Situation der Arbeitenden zum Positiven wandelt? Vor Ort, here, there & everywhere? Macht der Film als Film darüber hinaus und überhaupt Sinn? "Das Neue Evangelium" ist ein Experiment und eine Reality, die heute in temporärer Ewigkeit geschaut werden kann.
Der Holzschuhbaum (OT: L'albero degli zoccoli, Italien/Frankreich 1978, Regie, Kamera & Drehbuch: Ermanno Olmi. Mit Laiendarstellern aus der Provinz Bergamo, in Originalsprache: Lombardisch. Auf keinen Fall in deutscher Synchronisation schauen!*)**
Das Neue Evangelium (Theater- und Filmprojekt von Milo Rau, Matera, Italien 2019/20, Filmstart 17. Dezember 2020)
*Immerhin hat die Synchro im deutschen Verleih mit dem Kompositum "Holzschuhbaum" eine deutsche Titelgebung noch schön hinbekommen, was in der deutschen Verleihpraxis schon erstaunlich genug ist. An einem Kompositum, Spezialität der deutschen Sprache, könnten so manche Verleihverbrecher sich durchaus des Öfteren mal versuchen.
**Mit cinephilen Grüßen an Andreas Heckmann, an Al Pacino sowie an das Werkstattkino – drei, die mich, voneinander unabhängig, vor Zeiten auf dieses Filmwunder aufmerksam machten. Goldene Palme von Cannes 1978.
Zugabe:
Olmis "Altes Testament" mit nomadischen Wüstenbewohnern:
Die Bibel – Genesis (OT: Genesi – La Creazione e il diluvio, Italien/BRD 1994, Regie, Kamera & Drehbuch: Ermanno Olmi. Mit Laiendarstellern und Komparsen aus Marokko, in Marokko.)