2013-03-05

Meine Platte: Joe Strummer in der Wüste


Notturno Indiano – Joe Strummer in der Wüste

Nähert man sich dem Cabo de Gata, Geisterland am Mittelmeer, auf der Buslinie von Nordosten kommend, passiert man unweigerlich das Brückendorf Lorca. Vielleicht ist es kurz vor Mitternacht, man kippt im Flutlicht der Bar einen cortado, freut sich auf den Sonnenaufgang, der wenige Autostunden weiter an den Stränden von La Isleta, Los Escullos und San José wartet, wundert sich, dass einem kein indio eine Tijuana Bible andrehen will, erinnert sich wieder, dass man nicht in Mexiko, sondern auf dem Weg nach Almería ist, und Lorca hat einen gut in den nächsten Tag gebracht. Lorca markiert in jeder Hinsicht eine Grenze. Hinter Lorca beginnt gesäumt von halb umgeknickten Agaven, Kaktusfeigen und erschöpften Goldminen der Westen.

Die grenzenlose Dürre an Angeboten lässt den Reisenden Ziele vorfinden, die leicht und ohne Umschweife zu erreichen sind. Meine Ziele waren klar gesteckt: Ich wollte die Fotografin Jeanne Chevalier treffen, von der ich wusste, dass sie hier mitten im Nichts lebte, und ich wollte Joe Strummer sehen, von dem ich wusste, dass die Möglichkeit bestand, ihn hier zu treffen. Was ich genau von diesen Begegnungen erwartete, war mir nicht klar, aber es waren klare Ziele und das genügte.

Jeanne rief ich von der einzigen Telefonzelle, die es in San José gab, aus an und fragte sie nach ihrem Workshop. Sie sagte, der habe noch Zeit, aber ich solle bei ihr zu Mittag essen und am nächsten Tag bot sie mir an auf ihrer Baustelle zu arbeiten. Nach Feierabend lernte ich während den Tischgesprächen viel über das Wesen der Kunst. Oft war ihr Kollege und Nachbar Oscar Molina zu Gast, der mir erklärte, um gute Fotos zu schiessen sei es wichtiger, sich durch Zeit und Raum zu bewegen, denn das Bild durch den Sucher zu wählen. Man solle nicht mit selektivem Blick wählen, man müsse in den Augenblick hineingehen und dann aus der Hüfte schiessen.

In der Abenddämmerung klapperte ich dann die wenigen Bars der Gegend ab, auf der Suche nach Joe. Nicht durch den Sucher schauen. Ohne selektivem Blick auf der Bildfläche erscheinen, in Bewegung bleiben...
Joe Strummer war nicht über Lorca, den Ort, an den Cabo de Gata gekommen. Lorca, García Lorca, der Dichter, war für ihn das erste Ziel seiner Suche gewesen. Paloma Romero, die später als Palmolive bei The Slits und den Raincoats spielte, hatte dem von Haus aus multikulturell orientierten, als John Graham Mellor in Ankara geborenen Hausbesetzer in den Tagen seiner Zeit mit der Pubrockband The 101ers spanische Verse von Lorca ins Ohr gesetzt.

Joe war von Nordwesten runter gekommen, über Granada. Dorthin war er 1984 geflohen, nachdem er im selben Jahr einen artistischen Fehler begangen hatte, der hier keine Erwähnung verdient. 1982 war noch das letzte großartige Album von The Clash erschienen - Combat Rock, für mich die nachhaltigste und spannendste LP dieser Gruppe, mit tropicalisch üppigen Soundtexturen, dem schnarrenden Gegrummel von Allen Ginsberg, der Zeichensprache des Graffittikünstlers Futura 2000 und diesem coolen Coverfoto, das die Band auf einer eingleisigen Bahnlinie in Thailand zeigt. Ursprünglich hätte die Platte als Doppel-LP mit dem Titel Rat Patrol From Fort Bragg erscheinen sollen, aber dann besann man sich, dass etwas Eleganz und Schlichtheit nach der vollgepackten Wundertüte Sandinista doch angemessener sein sollten. Eine lyrische Eleganz, die ich hinter Songtiteln wie Straight To Hell, Death Is A Star oder eben dem Albumtitel gar nicht erwartet hatte.

In Death Is A Star erzählt Joe etwas von einem Verbrechen, das irgendwo in den spanish mountains stattgefunden und später im Kino zu sehen gewesen sein muss. Nachdem er zwei Jahre später eingesehen hatte, dass The Clash ohne Mick Jones und nicht zuletzt ohne dem Schlagzeuger Topper Headon keinen Sinn stifteten, zog es ihn eben in diese Berge, nach Granada.

Eine Legende sagt, Joe habe dort eines Abends bei seinem Kumpel Jesús Arias an die Tür geklopft und geraunt: "Komm, lass uns Spaten und Schaufeln holen und den Leichnam von García Lorca ausgraben." Zu verschiedenen Gelegenheiten soll Joe gerne gesagt haben: "Quiero tener una ferretería en Andalucía – ich will eine Eisenwarenhandlung in Andalusien haben."

Anekdoten begannen sich auf meiner Suche quer durch den Cabo de Gata zu verdichten. Und letztendlich war ich hier aus dem Bus gestiegen um mir diese Sachen anzuhören. Joe Strummer hingegen war hier für immer aus dem Business ausgestiegen. Er hatte vorher eine der einflussreichsten Rockbands aller Zeiten gehabt, hatte sich wie ein Berserker über die Bühnen bewegt, als wollte er einen Augenblick mit mehr Leben füllen als das Auge einer Kamera mitschneiden kann, als wollte er die Zeit zerschneiden.

Und dann liebte er den weiten andalusischen Himmel, landete eines Nachmittags mit einem Pick-up ohne Nummernschild vor der Ranch Pez Rojo in San José, mit dem Schriftzug La vida no vale nada - das Leben ist nichts wert über der Frontscheibe. Das Leben hat keinen Preis. So schilderte es der Fischer Ángel.

In Rodalquilar saß ich Javi in seiner Bar, die in einer ehemaligen Garage eingerichtet war, gegenüber. Beziehungsweise saß er vor der Glotze, während ich ihn als einziger Gast im Raum mit Fragen löcherte. "Aber was willst du denn mit dem?" Javi schüttelt den Kopf und lacht. "Wenn Joe kommt, dann bleibt er meist die ganze Nacht. Wir rauchen Joints und ziehen uns Lines. Aber wann er kommt, kann man nicht so genau sagen. Er kommt, wann er Lust hat."

Joe tauchte am Rande von Almería auch in einem versoffenen Trashmovie von Alex Cox an der Seite von Grace Jones, Courtney Love und den Pogues auf. In eben jenem Italo-Western-Setting, wo auch Fassbinder '71 seinen Whity in den Sand gesetzt hatte.

Ein Wirt aus Los Escullos erzählte, Joe sei eine Zeitlang ohne Führerschein in der Gegend unterwegs gewesen. Für den Fall dass die Guardia Civil ihn anhielt, hatte er immer ein tape von Manolo  – Que viva España – Escobar zur Hand.
Mittlerweile war es mir auch möglich, mich mit einem Auto durch den parque zu bewegen. Auf den Streifzügen begleitete mich dabei oft ein tape, dessen Musik wunderbar die Stimmung der Landschaft wiedergab: Earthquake Weather - kein phänomenales Album, aber von der ambitionierten Backingband mal abgesehen eine Sammlung ganz wunderbarer Songs. Mal tropisch schwül und sumpfig, mal weit und plain und mit Fahrtwind - vielleicht die einzig gute Soloscheibe von Joe Strummer. Ein Album, von dem seinerzeit, '89, kaum Notiz genommen wurde.

Eines Nachts dann im Pez Rojo, dieser großzügigen Ranch, mit Billiardtischen und mehreren Bars, saß ich unter dem Sternenhimmel im corral. Der Barman hatte gesagt: "Heute ist er da.""Meinst du wirklich?""Ja, heute kommt er. Seguro." Ein paar Cuba Libres später war die Zeit schon weit nach Mitternacht vorgerückt und ich wollte langsam aufbrechen, da spielte der DJ Should I Stay Or Should I Go - Joe Strummer is in the house! Es war natürlich der falsche Song, so wie wenn Yesterday gespielt worden wäre um John Lennon willkommen zu heissen. Aber tatsächlich, da war er also. Er saß einfach draussen an einem Tisch, mit Frau und Töchtern. Was wollte ich noch von ihm? Ich wusste es nicht. Hinzugehen hätte keinen Sinn ergeben, wozu? Ich kam mir vor, als wäre ich am Ende von Notturno Indiano, vom Indischen Nachtstück, einer Novelle von Antonio Tabucchi, angelangt. Am Ende einer Suche, da nichts passiert. Weil der andere nicht darauf wartet, gefunden zu werden, und man ihn in seiner Ruhe nicht stören möchte.

Joe Strummer feierte in jener Nacht seinen 44sten Geburtstag und wäre am 21. August 2012 60 Jahre alt geworden. Der „Pez Rojo“ (Roter Fisch) heisst mittlerweile „Pez Azul“ (Blauer Fisch), und die Kleinstadt Lorca wurde im Mai letzten Jahres von einem massiven Erdbeben erschüttert. 

    Foto von Jeanne Chevalier



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