Ich sitze in einem Hotelzimmer und
tippe Buchstaben in mein Schreibgerät, Das kleine Chaos im
Kopf. Das Schreibgerät ist ein langsam fahrender Acer Extensa 5620,
vor meiner Zeit benutzt von den Fingern von Michael Fengler. So hatte
Èla gesagt, als ich es am Tag vor meiner Abreise nach Graz in ihrer
Küche dankbar entgegengenommen hatte. Èla macht was in Grünwald
beim Film, und sie sagte diese Worte: Benutzt
von den Fingern von Michael Fengler. Fengler, der Fellini,
Fassbinder und Lemke produziert, und in ihren Filmen manches Wort
geschrieben und manchen Lauf gedreht hatte. Sichtbar wurde er als
Mann vor der Kamera in Fassbinders erstem Kurzen, im Zweiten stand er
dann hinter der Kamera, es waren die Jahre 1966 und '67: Der
Stadtstreicher und Das kleine Chaos. Ein
kleiner Durchdreher von drei erfolglosen
Zeitungshausierern. Franz, vor dem Filmplakat von Raoul Walshs
Maschinenpistolen (WHITE HEAT), »ich hab'n Buch geklaut,
antiquarisch«, liest aus Henry de Montherlant, Die jungen
Mädchen: »Rasch! Schreiben Sie mir nochmals Worte, die ich
küssen könnte. Ich habe Ihren Brief an meine Brust gedrückt, bis
es mir weh tat, und je weher es mir tat, desto wohliger wurde mir
eben deswegen zumute.« Franz, die Finger zur Darstellung einer
Knarre geformt: »Ich möchte endlich mal einen Krimi sehen, der
gut ausgeht!« Franz, das Geld vom Wohnungsüberfall zählend, »Was machst'n DU mit deinem Anteil?« Sie kauft sich ein
Kleid, er kauft sich irgendwas Vernuscheltes. Und du, Franz? Franz,
sein Gesicht im schnellen Zoom: »Ich? Ich geh' ins Kino!«
Erstmal das Radio an. Radio Helsinki,
92,6 MHz. Das Radio musste extra mit, um es morgens oben im Zimmer
laufen zu lassen. Kein Sterne-Hotel der Welt bietet »Zimmer mit
Radio« an. Das Radio heißt Caliber HPG 3IIR und ist mini klein,
und es gehört eigentlich nicht mir, aber das ist eine andere
Geschichte. Wir sind nicht in Finnland, aber in Österreich, und Graz
hat diesen wunderbar piratesquen Sender, auf dem zwischen neun und
zehn Uhr morgens in einem Dreiergespräch die Diagonale analysiert
wird: Marie Creutzers Eröffnungsfilm Der Boden unter den
Füßen war gefühlt zu lang, und gedacht viel zu kurz. In der
Karrierehölle der Unternehmensberaterin Lola ist nicht viel Platz,
auch nicht für ihre suizidale Schwester Conny, die fliegt raus, so
wie alles, was zuviel an Personal und an Kollegen ist. Mysteriöse
Anrufe und Kurznachrichten deuten einen Horrorthriller an,
überschreiten aber keine Linie und treten auf der Stelle. Ich gebe
den Stimmen recht und dreh' wieder ab. Gestern Abend, in diesem
Raumschiff namens Helmut-List-Halle, hatte meine innere Stimme
während der Projektion notiert: Das Telefon taugt nicht als
halluzinatorischer Spielraum, und der Psychohorror kommt mit dem
Arbeitsfetisch nicht aus dem Themenpark raus. Die Festivalleiter aber
sind gute Politiker. »Sehr verehrte Damen und Herren,
Nationalismus ist Gift für die Gesellschaft!« Peter
Schernhubers lang nachhallendem Eröffnungssatz und Sebastian
Höglingers Beschwörung der Werte Humanität, Egalität,
Geschwisterlichkeit und Solidarität wurde gleich flammenden
Schwertern auch von meinen Händen applaudiert. Gemeinsam erhob man
noch die Genauigkeit zur Parole, und Birgit Minichmayr weinte vor
zweitausend Anwesenden, weil sie von allen geliebt wird. Damit hatte
die zeitbewusst staatsmenschliche Eröffnung ihren Höhepunkt
erreicht. Der Taxifahrer drehte auf dem Weg ins Wiesler eine Sendung
über psychische Erkrankungen übertrieben laut auf und tauchte die
Lastenstraße, den Bahnhofgürtel, den Lendkai und den Grieskai in
eine urkomisch-melancholische Groteske. Ein Schwall posttraumatischer
Belastungsstörungen schwappte beim Ausstieg aus dem Wagen, und ich
hoffte auf baldige Erfüllung der von Schernhuber verkündeten
Verheißung »Filme führen in Länder, die es gar nicht gibt.«
Eine phantastische Vision, die von einer national begrenzten
Jahresschau, wie es die des österreichischen Filmschaffens nun
einmal ist, wahrlich schwer einlösbar, was umso mutiger ist und der
Festivalkuratoren Willen und Lust zur Transgression und
Transformation deutlich macht.
Auf dem Nachttisch liegt ein Flyer, den
mir Luc auf der Eröffnung zugesteckt hatte, um von Deutschlands
erstem queeren Kurzfilmfestival zu künden. Es heißt StyxX
und findet statt vom 28. bis 31. März in München. »Na, das
passt ja«, denke ich und mache mich auf den Weg zur Projektion
von Styx, einer
deutsch-österreichischen Produktion, die bislang in den Kinos an mir
vorbeigelaufen war. Neun Jahre und auf hoher See soll daran gedreht
worden sein. Das will ich sehen. Aber zuvor gehe ich noch in Welcome
To Sodom, ich Ahnungsloser! Ein
Blick in die Festivalfibel: Der Drehbuchautor zu dem Schrottplatzfilm
trägt den Namen Schrotthofer, und der Regisseur von dem
Meeresabenteuer heißt Fischer. Ganz klar: Hier walten Kräfte, die
das Chaos ordnen! Beide Filme beginnen mit der orakelhaften
Kontemplation von Tieren: Sodom
mit den vorsichtigen Bewegungen des Chamäleons, Styx
mit den Affen von Gibraltar. Die Kuratierung des Festivals ist
so geglückt wie die gelungene Hängung einer Kunstausstellung! Und
dann öffnet sich Welcome To Sodom, und gleicht mehr einem
Tafelbild von Hieronymus Bosch, denn einem realen Abbild aus dieser
Welt. Dabei gibt es ihn tatsächlich, den Ort Sodom. Wir haben ihn
erschaffen. Mit jedem Schreibgerät, das wir wegschmeissen, helfen
wir diesem Ort beim Wachsen. Es ist einer der giftigsten und
fürchterlichsten Orte der Welt. Er heißt Abgobbloshie und ist ein
Teil von Accra, Ghana, aber seine Bewohner nennen diesen Ort so:
Sodom. Sie leben dort, auf dieser uferlosen Mülldeponie, jeder mit
seiner eigenen Geschichte. Dieser Film erschüttert mich komplett!
Vom ersten Augenblick an tränen mir die Augen. So etwas habe ich
noch nicht erlebt. Und dann steche ich ins Blau von Styx,
und sehe den besten Abenteuerfilm seit ... Susanne Wolff
allein auf einer Segelyacht als Überheldin, sie ist eine Göttin –
und sie zerbricht. Ich bin fassungslos, verliere den Boden unter den
Füßen. Die Unterwelt ruft, aber die Götter enttäuschen. Die
größere Ordnung ist kalt, es ist unser Wohlstand, der tötet. Die
alte Magie ist nichts weiter als der Gestank der Verwesung! Raus aus
dem Dunkel des Kinos, in die Sonne, ins Gegenlicht der
Jakoministraße, den ganzen Weg runter bis zur Mur fliehend,
Tränenbogen in den Augen. Auch wenn die Musik des deutschen Justin
Bieber Kayef völlig uninspiriert und schlecht ist, ist mir ein Lied,
in dem es irgendwie auch um Tränen im Sonnenschein geht, an dieser
Stelle eine Randnotiz wert: Das Album mit dem Liedchen heißt CHAOS.
»Nach Graz ins Kino musste ich reisen, um ein Gefühl zu bekommen für die Ohnmacht, die kennt, wer Leben und Tod in Händen hielt. Und inmitten eines Rettungsversuchs die Seite der Lebenden als kalt und abweisend erfuhr. Die totale Abgründigkeit, in einen Film gefasst und an eine Leinwand projeziert, hat sie mich heftig erwischt. Um in Zukunft mit wissenden Augen zu begegnen, wem sich in Gefahr und größter Not allein der Fährmann der Unterwelt als Gefährte anbot.«
Mag pathetisch klingen, für mich ganz real.
Draußen ist Vollmond, ich sitze weiter im Wiesler, das Radio läuft und der Acer macht ähnlich kurze Sprünge wie der VW-Käfer auf der Schleißheimerstraße, damals in der Eröffnungsszene zu Das kleine Chaos: Das Trio steigt in den Käfer, nur um ihn ein paar Meter weiter hinter einem anderen Käfer wieder abzustellen. So springt und hakt der Acer. Was beileibe nicht so schmissig wie jene Eröffnungsszene ist, aber will ich jetzt ernsthaft auf die grüne Schreibmaschine umsteigen, die hier auf dem Sekretär neben dem Bett in nostalgischer Nutzlosigkeit ein gutes Bild abgeben soll? Ich weiß, der Acer ist reif für Sodom. Schon bald wird er dort landen, und der Feuermann wird ihn und alle Fingerspuren von mir und Fengler dort verbrennen. Aber die grüne Schreibmaschine ist so blöd wie der Anti-Feminismus in der Sprache von de Montherlant (Le Chaos et la nuit, 1963), oder die misogynen Gesten von Fassbinder ... und der Text muss fahren, auch wenn die Maschine hakt. Es ist der von Fengler verfingerte Acer, der die Richtung vorgibt. Dabei ist es nicht so, dass ich Michael Fengler verehre. Nein, seine Maschine kam zu mir, und ich muss mir einen Reim darauf bilden. In Mein schönes Leben als Junkie von Muriel Scheu lese ich folgende Anekdote zu den Vorbereitungen des Lemke-Streifens Arabische Nächte:
»Am späten Montagvormittag nahm Michael Fengler, ohne eine Miene zu verziehen, die Drehgenehmigung für Tunis und Umgebung entgegen. Wie ich sie erkämpft hatte, interessierte nicht. Fengler bezog auch keine Stellung zu meinem Vorwurf, er habe mich nicht nur unter falschen Voraussetzungen (bei der deutschen Botschaft in Tunis hatten sie die Albatros-Filmproduktion in so schlechter Erinnerung, dass mir die Zusammenarbeit verweigert wurde, weil Fengler und Lemke alles versaut hatten. Natürlich hatten die zwei mir das verschwiegen), sondern auch ohne genügend Verrechnungsgeld nach Tunesien fliegen lassen.«
Mit dieser ganz anderen Geschichte haben wir uns nun wirklich weit entfernt von der Diagonale. Und sind schon wieder drin: Um 22:30 Uhr läuft im Schubert Querelle, Fassbinders unsterblicher Matrosenkitsch. Co-Produzent: Michael Fengler.
Mit Querelle habe ich mich schon so ausgiebig beschäftigt, da muss ich nun nicht mehr hin, und der Grund für das Laufen ist freilich ein ganz anderer, hat vielmehr mit Hanno Pöschl zu tun, dem sich die Diagonale mit einer Retrospektive widmet. Aber gerade wenn es darum geht, genau zu sein, hat das Eine mit dem Anderen zu tun. Über verquere Umwege, die alle einem sich mir langsam erschließenden Maulwurfskanal folgen, scheine ich allmählich reinzukommen in die Diagonale. So ließe sich mühelos über Burkhard Driest, der als das deutsche Pendant zum Wiener Schauspieler und Gastronom Pöschl durchgehen könnte, und in Querelle nicht nur spielte, sondern auch am Drehbuch saß, eine Linie ziehen zu einem anderen alten Schmuckstück, das die Diagonale zeigt: Hans-Jürgen Syberbergs Meilenstein Romy – Portrait eines Gesichts aus dem Jahre 1967 (idiotischer Titel für diesen zauberhaft montierten Monolog aus Selbstzweifeln und schonungsloser Offenheit), denn Romy Schneiders Reaktion auf Burkhard Driests Erinnerungen an seine Jugend als Bankräuber, preisgegeben in der TV–Talkshow Je später der Abend anno '74, (»Sie gefallen mir ... Sie gefallen mir sehr!«), bleibt legendär. Und freilich ist das wieder die falsche Referenz, die richtige Referenz ist 3 Tage in Quiberon von Emily Atef. Der Nachbau von Schneiders letztem Interview, anno '81 in einem Spa in Quiberon, sehr groß dargestellt von Marie Bäumer, und hier begegnen wir auch Birgit Minichmayr wieder, aber es wird auch so herum rund: Das bretonische Quiberon ist gar nicht so weit weg von Querelles' Brest!
Wahrhaftig das Portrait eines monologisierenden Gesichts ist natürlich Paul Poets My Talk With Florence, das hier mit einem Kino-Konzert von Alec Empire wiedergesehen wird, und auch das ist ein Film, der jeden absolut kaputt hinterlässt, die Verdauung weiterer Filmprojektionen im Anschluss unmöglich macht. Aber zumindest von all jenen, die nicht einsehen wollen, was Otto Muehl für ein Drecksack war, geschaut werden sollte.
In unmittelbarer Nachbarschaft finde ich das Special »Staging Femininity – Projektionen von Weiblichkeit im österreichischen Film« mit mehrheitlich von Künstlerinnen ausgewählten Programmen, die Einblicke in den unabhängigen, experimentellen feministischen Film Österreichs der 1970er- und 1980er Jahre eröffnen. Es gab ja nicht nur Valie Export – sie kommt hier in einem Trouble Feature zur Geltung. Namen wie Moucle Blackout, Maria Lassnig, Mara Mattuschka, Lisl Ponger oder Linda Christanell wünsche ich in Zukunft an anderer Stelle nochmal zu begegnen, und auch wenn das momentan noch eine Utopie sein mag, eines Tages losgelöst und befreit aus dem didaktisch schubladisierenden Korsett »Frauenfilm« oder »weiblicher Blick«. Der Tag wird kommen! Anja Plaschgs Einreichung Das Schreiben und das Schweigen von Carmen Tartarotti macht mich glücklich: Friederike Mayröcker mag nicht sprechen, sie schweigt. Aber wie!
Wieder im Wiesler, Fenglers Schreibmaschine kotzt mich an, blökt: Schreib, du Schrottkopf! Ich winde mich, wehre mich: Buchstabengesicht, halt dein altes Maul, ich wechsel gleich rüber zur grünen Maschine! Aber die fasst ja schon seit dreissig Jahren keiner mehr an. Damals, als man seine Texte noch mit der Bim in die Redaktion brachte. Natürlich schreibt keiner auf der grünen Maschine, ich auch nicht. Aber wie zum Teufel soll ich auf der Maschine mit dem Fengler–Fluch etwas zu den aktuellen Filmen schreiben? Es geht nicht. Andere werden darüber berichten ...
Über das Jelinek-Kunstwerk Die Kinder der Toten vom Nature Theater of Oklahoma. Über den preisgekrönten JOY von Sudabeh Mortezai, der eine Geschichte erzählt von den Nigerianerinnen, die in Wien in Prostitution geraten. Über The Remains – Nach der Odyssee von Nathalie Borgers, der so erschütternd aber doch weniger sehenswert an Styx anschließt. Oder im Anschluss an Welcome To Sodom über den sehenswerten Bewegungen eines nahen Bergs von Sebastian Brameshuber, mit dem nigerianischen Autoverschrotter Cliff und seiner einsamen Werkstatt inmitten der steirischen Alpen. Über Erde, den neuen vom immer sehenswerten Nikolaus Geyrhalter. Und natürlich über GEHÖRT, GESEHEN – Ein Radiofilm von Jakob Brossmann und David Paede, den Sender Ö1 von innen aufschneidend.
Und am Ende, der Festivalsieger: Chaos,
von Sara Fattahi. Drei syrische Frauen an drei Orten – Schweden,
Wien, Damaskus – in einer Meditation über den Krieg, der nicht
endet. Egal, wo man ist. Chaos ist ein visuell komplexer Film
über die Unsichtbarkeit, ein Gespräch über die Stille.
Zwischen Das kleine Chaos und
Chaos liegt ein halbes Jahrhundert. Das Weltkino hat sich
gewandelt, die Blickwinkel haben sich geweitet. Aber der Krieg ist
noch immer nicht aus der Welt.
Anmerkung:
Styx ist in sechs Kategorien für den deutschen Filmpreis nominiert, und ist bereits auf DVD erhältlich.
Das kleine Chaos ist täglich
auf youtube zu sehen, und Chaos von Sara Fattahi startet am
04. Oktober in den österreichischen Kinos, der Deutschlandstart
steht noch aus.
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