Erinnerung
an ein Rendezvous
Es
ist Sonntagmorgen im August 1976. Moment, moment, es ist noch nicht
wirklich Morgen, es ist halb sechs. Es ist noch früh. Seifenlauge
hängt in der Luft. Die Straßen von Paris sind frisch geduscht.
Vögel zwitschern. Der Filmemacher Claude Lelouch startet seinen
Wagen, ein Mercedes Benz 450 SEL, an dessen Stoßstange er zuvor eine
Eclair cam-flex 35mm Kamera montiert hat. Es ist noch früh, aber für
die Figur im Film ist es spät. Sie wird erwartet. Und sie, die
unsichtbare Figur, kann es kaum erwarten. Anzukommen, den Wagen zu
verlassen und sichtbar zu werden. Und er, Lelouch, er hat es auch
eilig. Er ist identisch mit der Figur. Das Spiel ist echt. Lelouch
spielt ein echtes Spiel. Es muss schnell gehen. Bevor die anderen,
bevor irgendjemand auf die Straße geht. Obwohl: Viel wird nicht
gehen. Paris ist im Urlaub. Im August. Am Meer. Aber Lelouch hat nur
zehn Minuten Zeit: Den Rest von der Rolle von seinem letzten Film.
Es
geht los. Der Wagen schiesst aus dem Tunnel an der Périphérique, an
der Mündung Porte Dauphine ist der Morgen nikotinblau.
Kautschukgrün
ist die Avenue Foch, mit Kurs auf den Arc' de Triomphe. 140 kmh.
Ein
Haifischsarg, der aus einem zugefrorenen Moorsee ragt. Aufgebockt auf
Stoßzähnen aus Eis und den quadratischen Augen einer aztekischen
Gottheit. Ein Platz für Außerirdische, der Place Charles de Gaulle.
Wir passieren ihn mit 110.
Ganz
aufgedreht, die Champs Elysées mit 160, rote Ampel und ein Bus wie
eine Breitwand. runtergedrosselt auf 110. Es geht vorbei.
Obacht.
Lelouche, gleich wirst du eingebuchtet, wenn du so weitermachst, hier
an der Place de la Concorde, in einem Schuhkarton
und Nagelbrett.
Aber
der Motor röhrt laut, an der Place de la Opéra, natürlich!
Rot,
rot, rot – Rue Pigalle und Place du Caroussel, hier kommt Lelouche!
Boulevard
de Clichy und rein in die Rue Caulaincourt, Avenue Junot, zwei Tauben
flattern dort hoch, der Blick rast entlang der Place Marcel Aymé,
mit Vollgas über die Place du Tertre. Es quietschen die Bremsen beim
Einschlag in die Kurve, und rein geht’s in die Rue Azais, noch im
Licht der Laternen, vom ersten Morgenschimmer gebrochen.
Eine
letzte Kurve und Steigung und raus kommt der Film am Place du Parvis
du Sacré Coeur. Lelouche stoppt den Wagen für die letzte
Einstellung: Eine junge Dame wartet an den Stufen der Place du Parvis
du Sacré Coeur, jetzt schon ins Tageslicht getaucht.
Der
Fahrer reisst die Tür auf, stürmische Umarmung, gerade noch
rechtzeitig. Die Figur ist so echt wie der Fahrer echt in diesem
Film: Es ist Gunilla Friden, die Lebensgefährtin von Claude
Lelouch.C'était
un rendez-vous,
in knapp neun Minuten gefilmt.
Vierzig
1/2 Jahre später. Im Februar 2017 erschien ein Rerendezvous. Diesmal
von einem Ford Mustang aus gefilmt, und einem bezahlten Profi am
Steuer, der für dieselbe Strecke nur 1 1/2 Minuten benötigt.
Allerdings wird geschummelt. Der Film ist nicht
eine Fahrt. Man sieht
deutlich die Schnitte in der Strecke. Das Ganze ist ein Ford
Werbespot.
Dem Spot
vorangestellt wird der Hinweis:
Während
der Produktion dieses Films wurden alle Rechtsvorschriften und
Geschwindigkeitsbegrenzungen eingehalten. Die Produktion wurde in
Zusammenarbeit mit den französischen Behörden realisiert. Unter
kontrollierten Bedingungen mit professionellem Fahrer gefilmt. Bitte
nicht Nachmachen! Dieser Film wurde modifiziert, um eine erhöhte
Geschwindikeit zu simulieren.
Claude
Lelouch soll für den Spot sein Okay gegeben haben. Wahrscheinlich,
weil im Kontrast dazu sein Rendezvous noch mehr als das wahrgenommen
werden kann, als das, was es war: Ein illegaler Ausbruch aus der
Verkehrssicherheit. Er hatte damals, 1976, lediglich die Worte
vorausgeschickt:
Der
Film, den Sie sehen, entstand ohne Tricks und ohne Zeitraffer.
Lelouches
Rendezvous ist Cinema Verité. Ein Glücksspiel mit glücklichem
Ende. Obwohl Lelouches einzige Absicherung, sein Freund, der
Filmemacher Elie Choukrie, der an der Rue de Rivoli hinter dem Louvre
mit einem Walkie Talkie die nicht einsehbare Verkehrskreuzung
beobachtete, ausfiel: Die Walkie Talkies funktionierten nicht.
Eine
Wendung gibt es aber beim Rerendezvous, eine Idee, die das Ende
rettet:
An
den Stufen
des Place du Parvis du Sacré Coeur wartet... ein Mann auf das Date:
Aus dem Wagen springt eine Frau. Es ist eine Fahrerin, die diesen
fiktiven Rekord von 1 1/2 Minuten Raserei aufstellt.
Im
selben Monat, Februar 2017, gibt es in Berlin einen Präzedenzfall:
Das Gericht verurteilt zwei junge Männer, die sich ein Autorennen am
Kudamm geliefert hatten, zu Mord mit lebenslangen Haftstrafen. Das
Auto ist Mordwaffe. Außer, möchte man einschieben, ein betrunkener
Verkehrsminister oder Polizist, steuert diese Mordwaffe. "Für mich
war das ein stehendes Fahrzeug", verteidigte sich einer 1983 auf
dem Weg nach oben. Ein Jahr Knast, der Ministerposten wartete – ein
Rendezvous als Staatsminister.
Ich
persönlich bin leidenschaftlicher Spaziergänger und kann mit
rasenden Autos in der Stadt gar nichts anfangen. Auch mit Lelouches
Rendezvous nicht mehr, als dass es eine rasante und halsbrecherische Tat war. Mit dem Abstand der Zeit allerdings kommt noch etwas hinzu, die Erinnerung an eine eigene Fahrtschicht, gab es da doch vor ein paar Jahren noch ein Rendezvous:
Das Re-Rendezvous: Berlin,
Kreuzberg, im Juni 2007
Die
Autorengruppe Sánchez Schechinger Schmidt-in-der-Beek zeigt "Rendezvous"
von Claude Lelouch einmal rund um den Oranienplatz aus dem fahrenden Roten Bräunlich heraus projeziert. Der fahrende Rote
Bräunlich ist eine Galerie, war eine Galerie, an seinen letzten Kilometerständen, eine fahrende Galerie. Und auch dieser ist ein
Ford, ein Ford Consul. Benannt nach dem Fahrzeughalter Joe Masi, bürgerlich Maximilian
Bräunlich. Masi fand es eine gute Idee, sich von
seinem betagten Auto zu verabschieden, indem er es zu einer Galerie
umfunktionierte.
Der
Film wird also aus dem fahrenden Roten Bräunlich auf einen vor ihm her
fahrenden Lastwagen projeziert, gleichzeitig aus dem Roten Bräunlich
heraus abgefilmt und direkt im Anschluss auf dem Oranienplatz
gezeigt. Die Rückwand des Lastwagens zu einer Leinwand
umfunktioniert. Für die knapp neun Minuten Filmlänge benötigten
Sánchez Schechinger Schmidt-in-der-Beek knapp neun Umdrehungen, rund um den
Oranienplatz, den Oranienplatz zur Pariser Inennstadt
umfunktionierend. Die Stadt Berlin transfigurierte damals, in diesem
Shooting
by driving,
im Juni 2007, zur Stadt Paris.
Es
gibt keine Dokumente dieser Tat. Alles, was davon bleibt, ist ein
Flyer.
Und
die Erinnerungen der Autorengruppe Sánchez Schechinger Schmidt-in-der-Beek, die sich in der
Erinnerung noch weiter, noch immer um den Platz dreht:
Im Augenblick der Erinnerung drehen wir konstante Kreise um den Oranienburger Platz in Berlin,
diesmal in der Abenddämmerung, doch immer wieder mit Blick auf jene
Morgenfahrt durch Paris. Vorbei am Boulevard Périphérique, an der
Avenue Foch und an der Place Charles de Gaulle, und wir kreiseln um
den Oranienburger Platz zum wiederholten Mal. Die Champs Elysées und
Place de la Concorde, der Motor röhrt laut an der Place de la Opéra,
und laut dröhnt die Wiederholung bei der Umrundung vom Platz in
Berlin.
Rue
Pigalle und Place du Caroussel, wir drehen uns langsam, der Film
fährt sehr schnell. Bd de Clichy und rein in die Rue Caulaincourt,
die Projektion, die läuft fort und wir fahren hinterher, konstant
und nicht sehr schnell um den Oranienburger Platz zum achten und
neunten Mal. Av Junot, zwei Tauben flattern dort hoch, der Blick rast
entlang der Place Marcel Aymé, mit Vollgas über die Place du
Tertre, und wir sind im zweiten Gang und in der zwölften Runde am
Platz in Berlin. Es quietschen die Bremsen beim Einschlag in die
Kurve, und rein geht’s in die Rue Azais, noch im Licht der
Laternen, vom ersten Morgenschimmer gebrochen. Bei uns ists jetzt
stockfinster, nur der Projektor scheint munter, an der Rückwand vom
Sprinter von Robbes und Wientjes, und wir hinterher, nur hellgrün
über den Dächern die Leuchtschrift vom Möbel Olfe, so brausen wir
durch die Straßen von Paris am Montmarte, am Oranienburger Platz in
Kreuzberg, Berlin. Eine letzte Kurve und Steigung und raus kommen wir
am Place du Parvis du Sacré Coeur, wir halten den Wagen in der Mitte
vom Oranienburger Platz an, sehen noch die letzte Einstellung, eine
junge Dame wartet an den Stufen an der Place du Parvis du Sacré
Coeur, jetzt schon ins Tageslicht getaucht, der Fahrer reisst die Tür
auf, stürmische Umarmung, gerade noch rechtzeitig, kam er zu diesem
Rendeszvous, und wir schalten aus den Projektor, auf der
Verkehrsinsel in Berlin.
Am selben Abend, unweit
vom Oranienplatz Berlin, bzw Oranienplatz Paris, hatte ich persönlich
kein Rendezvous, aber der Abend ging weiter. im Schrittempo fanden
wir uns ein im Trödler, einer Bierkneipe in der Dresdener Straße,
gleich beim Möbel Olfe. Dort saß die Autorenngruppe mit Birol Ünel, dem
Birol Ünel aus Gegen die Wand, an einer Bierbank und was Ünel aus
den Tagen der Dreharbeiten zu Der Passagier erzählte, und wie Der
Passagier zu The Passenger von Antonioni transfiguriert, undsoweiter,
undsoweiter ... drehen sich weiter die Kreise und drehen sich.