Keine 3000 Meter Luftlinie trennen in Paris den Grand Palais vom
Strawinski-Brunnen am Centre Pompidou. Zu weit, um mit einer
Gewehrsalve eine Schusslinie zu ziehen. Selbst mit einer MK 40 kommt
man, vom Grand Palais aus geschossen, allenfalls bis zur Place de la
Concorde, bis zum Obelisk. Mit Spezialaufsatz und einer maximalen
Reichweite von 2500 Metern vielleicht noch bis zum Louvre, aber dann
ist Schluss. Selbst wenn man noch weiter schiessen könnte, müsste
man dort, im Louvre, erst etliche Bilder durchschiessen und bis dahin
noch zig Hauswände durchbohrt haben, so wie Gordon Matta-Clark einst
ein Haus in der Rue Beaubourg mit Blick auf das Centre Pompidou
aufgeschnitten hatte. Dort, ins Centre Pompidou, müsste man
schlussendlich als Kugel eindringen, um auf der anderen Seite
herauspreschend schließlich in den Strawinski-Brunnen platschen zu
können. Kurzum, es wäre zu schön, liesse sich von der großen Niki
de Saint Phalle Ausstellung, zu besuchen bis zum zweiten Februar 2015
im Grand Palais, eine direkte Fluglinie zum seit 1983 von Jean
Tinguely und Niki de Saint Phalle maschinisierten und nananisierten
Brunnen spannen. Doch wo die Physik versagt, vermag die Kraft der
Poesie zu walten, und auch wenn das Schiessen mit Blei im Sinne von
Niki gewesen wäre, so wollen wir nun Raum und Zeit durchquerend
lieber parallele Linien mit Worten skizzieren, um zu verbinden, was
der Geist auf Umwegen vermag.
Denn wo mögen sie sein, die Geister der einst so Ruhelosen? Und
heissen sie auch dort, wo sie nun schwanken mögen, immer noch so,
wie zu Lebzeiten im Irdischen, als sie zum Beispiel hiessen „Jean
Tinguely“ oder „Niki de Saint Phalle“? Nun, Geister sind so
frei wie die Gedanken frei sind, und während für die Einen momentan
die große Geisterstunde mit Niki und Jean im Grand Palais schlagen
mag, der gebündelte Geist auf der, just zur Eröffnung, von Konrad
Hirsch restaurierten DVD Edition von Peter Schamonis sinnlich
langlebigem Niki de Saint Phalle Film dort im Museumsshop erhältlich,
ziehen für Hank Schmidt in der Beek, seines Zeichens Art Director
von Schamoni Musik, die Geister ihre Kreise in einer himmlischen
Schenke, in welcher die Gestalt der Architektur des Centre Pompidou
von der feucht fröhlichen Betriebsamkeit eines Frankfurter
Apfelweinlokals durchspült wird. Konkret sieht das so aus, dass die
bunten Metallrohre, wie wir sie aus dem Pompidou kennen, dort oben
dazu dienen, Nachschub an
Ebbelwoi, Handkäs, grüner Soße,
Schäufelchefleisch, Rippche und Tataren zu garantieren und diese
immerfort hinauf zu schiessen. Nachzuhören ist diese Phantasie in
„Babylon Must Phalle“, einem Reggae der Formation „Lunsentrio“,
der in Vinyl graviert zu finden bislang nur auf der Compilation LP
„Rock'n'Roll People Vol. 2“ sein dürfte, oder in Druckschrift
nachzulesen ist in „Die ewige Apfelweinschenke Pompidou“,
erschienen in den Anthologien „Gedichte für Typen wie mich“ und
„Gedichte für Girls wie dich“, die der Berliner Verlag Heckler
und Koch herausgegeben hat. Dort heisst es:
Und es liegt vor den Rohren der himmlischen Schenke
Die Strawinski-Gass' und der Klapper-Platz:
Hier tauschen Verschiedene irdische Schwänke,
Hier halten Verschiedene munteren Schwatz,
und weiter:
Wo Gemütlichkeit ewig und meisterlich,
Wo niemals jemals der Ebbelwoi all':
Da nehmen für immer mich zwischen sich
Frau Rauscher und Niki de Saint Phalle.
Halt, Stopp! Wer
zum Himmel ist Frau Rauscher? Nun, da fangen die parallelen Linien
an, interessante Rohrfüllung und Geisteszährung zu erhalten.
Lauschen wir den Rohren!
Gleich wird die
Rede sein von fliegenden Marmeladen und klirrendem Geschirr. Es wird
die Rede sein von Tischbeinen, die, einmal vom Tisch gerissen, gleich
Baseballschlägern in den Händen von Hank oder von Gaius liegend,
durch den engen Raum sausende Flugteller in der Luft zerscheppern. Es
wird die Rede sein von der Offenbacher Küchenzerstörung in der
Neujahrsnacht 2002, aufgeführt von jungen Leuten in einer Dachwohnung in Offenbach am Main. Unter den Protagonisten sehen wir
neben Hank und dem eben genannten Sebastian „Gaius“ Kellig, die
heute zwei Drittel der bereits erwähnten Pop-Formation „Lunsentrio“
bilden, und als selbige momentan auf das Erscheinen der von Schamoni
Musik publizierten Single „Ein Typ wie ich – ein Girl wie du“
warten, neben weiteren Geistesverwandten den Hamburger Galerist
Niklas Schechinger sowie den Autor dieser Zeilen. Wir sehen einen
Wasserkocher die Glasscheibe des geschlossenen Küchenfensters
durchbrechen, Glühbirnen zerspringen und Scherben, die am nächsten
Morgen viel Arbeit bringen werden. Wir hören diese Gruppe Toben und Schreien,
und eine Platte von Stunde X rotieren. „Grafengold“, der
Zuckerrübensirup, und Aachener Pflümli kleben an der Wand, das
Poster mit den verschiedenen Modellen von Lambretta–Rollern längst
von selbiger gerissen und in Fetzen, und so wüten alle eine ganze
Weile. Bald wird die Rede von Frau Rauscher sein, dann, wenn sie zu
früher Stunde an der Türe läutet, und sie den noch schlaftrunkenen
Niklas durch die Sprechanlage fragt:
„Herrgottnochmal,
was war bei Ihnen los Heutnacht?“
„Ja, Frau
Rauscher. Wir hatten ein paar alte Freunde da. Da ist uns ein Schrank
umgefallen.“
„Ein Schrank
umgefalle? Drei Stund lang ein Schrank umgefalle?“
„Mhm, ja, das
hat etwas gedauert. Tut uns leid.“
Frau Rauscher,
die Vermieterin dieser wie der späteren „Ja!Wohnung“, würde wie
viele andere Menschen sich später an dieses Datum nurmehr als den
Tag erinnern, da der Euro eingeführt wurde.
Aber was ist der
Moment in der Geschichte, weswegen Frau Rauscher mit Niki de Saint
Phalle in eine Songzeile rücken sollte? Nun, dazu ist es nicht
unwichtig zu erfahren, wie der Abend seinen Lauf genommen hatte: Eben
noch war man entspannt und eher lustlos bis gelangweilt auf Klapp-
und Klapperstühlen in der Küche gehangen, da sehen wir Niklas
Schechinger in Wallung geratend einen dieser Stühle ergreifen und in
Stücke hauen, worauf ein anderer sofort aufspringt um die
verbliebenen Einzelteile durchs Fenster auf die Straße zu werfen.
Niklas Schechinger war Mieter und Gastgeber. Das ist ein wichtiges
Detail für das, was folgte. Der Gastgeber ergriff also die
Initiative und erteilte der Zerstörung seines Besitzes freien Lauf.
Ein kollektiv erlebter Rausch am Opfern von privatem Besitz und
Eigentum. Der Trennung vom eigenen Eigentum. Der im Moment der
Zerstörung sich neu definierenden Gemeinschaft.
Die Offenbacher
Küchenzerstörung war phänomenologisch betrachtet ein Potlatsch.
Genau wie bei einem Potlatch, den Ritualtreffen
nordamerikanischer Eskimo Indianer, ging es in diesem Augenblick
darum, die Gruppendynamik von der negativen Energie träger Materie
zu lösen und durch das akzelerative Bewegen starrer Objekte einen
energetischen Mehrwert zu erlangen. Bei gleichzeitigem Loslassen der
sich in Beschleunigung befindlichen Objekte sollte der Effekt der
Zerstörung derselbigen nebenbei den Rausch potenzieren. Ein
Potlatsch bedeutet auch: Größe durch die Zerstörung des eigenen
Besitzes zu beweisen und mit der Entledigung desselbigen zu wachsen.
Möglicherweise handelte es sich um die Vernichtung von als Luxus
empfundenem Überfluss. Oder man war Zeuge eines erbrachten Opfers,
dem Beweis immaterieller und innerer Stärke, der einem Synonym für
Unzerstörbarkeit gleichkommt. Entscheidend ist, dass es sich um den
eigenen und nicht um die Zerstörung von fremdem Besitz handelte. Bei
solch einem Tanz, bei dem man seinen Besitz wegwirft, wie
solcherlei Potlatschs auch genannt wurden, soll es bei ein paar
Gelegenheiten auch zu Gewaltexzessen und übergriffigen Zerstörungen
gekommen sein, etwa als ein Häuptling im Rausch befand, seine Größe
erst in der Vernichtung eigenen Lebensraumes wie der Verwüstung von
Häusern bis hin zur Tötung von Sklaven unter Beweis gestellt haben
zu wollen.
Eine
tatsächliche ökonomische Bedeutung hatten Zerstörungsrituale
während der jährlich stattfindenden Potlatsch-Treffen für die
Kwakiutl, Tlingit, Inuit und andere Stämme in pre monetären Zeiten.
Mit der Einführung des Geldes und des abstrakten Wertes war man in
der Lage, Überfluss und Macht durch Ausgaben für Luxus oder, in
unseren Zeiten, für Kunst, zu signalisieren. Der Offenbacher
Potlatsch datiert ja auch auf eine pre monetäre Zeit – auf die
Nacht vor der Euro Einführung.
Den Begriff des Potlatsch hatten Pariser Punks in den frühen
1950er Jahren von Georges Bataille aufgegriffen und als Strategie für
die Gegenkultur wiederentdeckt. Lange vor Punk also, aber wie uns
Roberto Ohrt schon erklärt hat, waren Leute wie Jean-Michel Mension
von den Lettristen die damaligen Punks von Paris. Junge
zerstörungswillige Jungs, die mit den alten
Daddys nichts
mehr zu tun haben wollten, gaben ein Magazin heraus, das sie
„Potlatch“ tauften und welches insofern einem Opfer gleich kam,
dass sie die Exemplare teils als Geste der Herausforderung an
Repräsentanten der Macht adressierten, teils mit einer Geste der
Verschwendung auf die Straße schleuderten, irgendwo auf die Straßen
von Paris warfen. Obschon diese Leute nichts mit der Welt der Kunst,
wie sie uns heute bekannt ist, gemein hatten, als einer hermetisch
mit den Bedürfnissen des Marktgeschehens verknüpften elitären
Luxustoilette also, so ist es kaum verwunderlich, dass der Potlatsch
der Lettristen eigentlich nur in Künstlerkreisen bekannt ist und als
Legende weiter erzählt wird. Denn es bleibt doch die Aufgabe der
Kunst, den Potlatsch zumindest als Illusion in Aussicht zu stellen,
wenn auch die Häuptlinge und Mächtigen in ihrer Allgemeinheit sich
nur an dieser Illusion bedienen wollen, ohne deren Sinnlichkeit je zu
ergreifen. Von der tieferen Bedeutung der Verschwendung haben die
Kunstkäufer mit ihrem Investorblick eigentlich keine Ahnung. Rendite
ist alles was sie wollen. Ein paar Galeristen halten dagegen. Wer bei
Niklas Schechinger Fine Arts zu Hamburg St. Pauli kauft, kann zum
Beispiel damit überrascht werden, bis in alle Ewigkeiten auf den
Erhalt einer Rechnung warten zu müssen. Man sollte wissen, dass sich
die Diplomarbeit, mit der sich der Galerist einst aus Offenbach
verabschiedete, den Titel „Kunst der Zerstörung“ trug.
Niki de Saint Phalle zelebrierte und beherrschte den Potlatsch wie
kaum ein Indianerhäuptling vor ihr. Sie war zweifellos ein Häuptling
der Kunst, mit Lust am rauschhaften Zerstören der eigenen Werke. In
einem Pariser Vorort geboren und aufgewachsen in New York, hatte sie
genug amerikanischen Esprit geladen, um sich zur Frau der Tat zu
erklären und den französischen Jungs und Daddys eins vor den
Philosophenlatz zu knallen. Sie schoss sich einfach frei von allen
Vorbildern und Vorahnen, ab Mitte der 1950er Jahre mit ihren
Schiessbildern, Bilder, die sie im selben Akt erschuf wie sie sie
exekutierte. Bilder schiessen, bumm bumm bumm, Material vernichten,
Geld verbrennen und gleichzeitig Geld verdienen – so funktioniert
nebenbei bemerkt auch Hollywood. Beschichtetes Celluloid belichten
und verbrennen, je größer die Materialschlacht umso größer der
Erfolg. Die Kunst erlaubt jegliche Transgression. Niki de Saint
Phalle wählte die Kunst, da sie ihre amerikanischen Mechanismen mit
ihrem französischen Blick so gut durchschaute und zu ihrer großen
Freude die Maschinerie für sich zum Laufen brachte. Deswegen passten
Jean Tinguelys dysfunktionale Maschinen so gut zu ihr. In die Wüste
von Nevada gehen und den eigenen Atombombentest inszenieren.
Maschinen aus Schrott bauen und mit Sprengkörpern in die Luft jagen.
Ob Potlatsch oder Imitation von einem Potlatsch, egal. Niki de Saint
Phalle hatte genug Sprengkraft für alle, sie ist die Raketenkönigin.
Im Jahr der Offenbacher Küchenzerstörung trat der Autor dieser
Zeilen mit der Formation „Murena & Joe Masi“ und der
„Raketenkönigin“ in Erscheinung – ein aggressives
Electropunkstück, das die drei durch diverse Gallerien und eines
Abends auch durch den Münchener Kunstverein peitschen liessen:
Die Raketenkönigin
Baut eine Muschimaschine
Die Raketenkönigin
Sie hat eine Maschine
die Maschine fängt das Feuer
Sie baut eine Maschine
und sie baut auch Ungeheuer
Die Raketenkönigin baut eine Muschimaschine
Baut eine Muschimaschine die Raketenkönigin?
Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle
Präsentieren das Gewehr
Jean baut eine Maschine
Die sich selber zerstört
Niki schiesst auf ihre Maschine
mit einer anderen Maschine
Ma-ma-ma Muschimaschine
Ma-ma-ma Muschimaschine
„Wer ist das Monster, Du oder ich?“ titelt da ganz treffend
Peter Schamonis Niki Film aus dem Jahr 1995. Genau darum geht es.
Bevor wir uns ewig fragen, ob zuerst die Henne oder das Ei auf der
Welt waren, lohnt es sich vielleicht, den Gang durch die Vagina einer
Nana zu riskieren und anzuerkennen, dass mindestens ebenso viele
KünstlerInnen durch Nikis Geist hindurch gegangen sind, wie sie
durch andere hindurchgegangen sein mag, und dass in dieser
wechselseitigen Durchdringung sich das Perpetuum Mobile der Welt
offenbahrt.
„
In order to create – one must first destroy“. Wer
das gesagt hat? Egal, egal. Es haben so viele soviel gesagt. Schauen
wir uns Nikis fantastischen Garten an, den sie als Krönung ihrer
Schöpfungen in der Toskana baute, so muss klar sein, dass ihre
leidenschaftliche Lust an der Schöpfung in all ihrer
Detailverliebtheit erst durch die zuvor jahrelang zelebrierte
Zerstörung in all ihrer ausgelebten Ungebremstheit auf den Weg
gebracht wurde. Ob ihr farbenprächtiger Tarotgarten nun an den Park
Güell von Antoni Gaudí erinnert und Niki dort hindurchgegangen war,
ist angesichts der Wirkung, die die Riesennanas auf die Besucher
ausüben egal.
Wenige Tage vor Niederschrift dieser Zeilen kam Peter
„Upstart“ Wacha von dort, aus dem toskanischen Capalbio, mit
funkelnden Augen zurück – der Münchener Musik Impressario, durch
etliche Nanas dort hindurchgegangen, schwelgte in Saint Phallischen
Momentaufnahmen und Eindrücken. Neuerdings arbeitet Upstarts Firma
Disko B eng mit Schamoni Musik zusammen, der Klangwelt der Schamoni
Film & Medien GmbH.
1979 übrigens, zeitgleich wie
Niki mit der Erschaffung des Tarotgarten begann, startete man in
München mit den Dreharbeiten zur beliebten Kinderserie „Meister
Eder und sein Pumuckl“ in einem leer stehenden Haus in der
Widenmayerstr. 2. Dort stand also Eders Werkstatt, doch heute fehlt
davon jede Spur. 1985 wurde das Haus abgerissen, um dem heute dort
befindlichen Unternehmenssitz der „Versicherungskammer Bayern“ zu
weichen. Soviel zur Relativität von „In order to create
– one must first destroy“.
Das fällt mir eigentlich nur
deshalb ein, weil die Versicherungskammer dort im Haus über eine
eigene Galerie verfügt, und ich mich erinnere, wie ich dort im
Dezember 2005 beim Besuch der dort eingerichteten Niki de Saint
Phalle Ausstellung zum ersten Mal auf Peter Schamoni stieß, der mich
dort in einem Poster an der Wand hängend auf seinen „Wer ist das
Monster, Du oder ich?“ Film aufmerksam machte. Der Grand Palais von
Paris ist, für Nikis Geist zum Wandeln, mit seiner Stahl- und
Glaskonstruktion nun zweifellos ein schönerer Ort als die
Versicherungskammer Bayern. Aber vielleicht zieht sie es auch vor,
dort oben im himmlischen Sarg der ewigen Apfelweinschenke Pompidou an
der Seite von Peter Schamoni, Frau Rauscher und Jean Tinguely zu
wandeln. Beides ist denkbar.